Die neue Virklichkeit (45)

Die grosse Zeit der Imnachhinein-Besserwisser: Wenn die Schweiz im Sommer zum zweiten Mal gedownlockt würde, wäre daran nach Ansicht der Oberlehrer der Nation primär der Bundesrat schuld.

Mit meinen eigenen Augen habe ichs nicht gesehen. Aber es gibt keinen Grund, an den Erzählungen von Freunden, die da waren, zu zweifeln.

Als sie berichteten, wie es in einem Burgdorfer Geschäft für Waren aller Art zu- und herging, als es am Montag zum ersten Mal wieder geöffnet war, lief es mir kalt über den Rücken: Vor der Türe seien sich die Kundinnen und Kunden bis auf den Parkplatz auf den Füssen herumgestanden. Drinnen habe ein Gedränge geherrscht wie sonst nur beim Ausverkauf bei H&M. Trennscheiben an der Kasse hätten ebenso gefehlt wie Masken vor den Mündern der Angestellten.

Der grossen Lockdown-Lockerung, die der Bundesrat für den 11. Mai in Aussicht gestellt hat, blicke ich deshalb mit einiger Skepsis entgegen. Wenn die primitivsten Vorsichtsmassnahmen schon in einem Laden ignoriert werden, der ohne übermässigen Aufwand coronakompatibel betrieben werden kann – worauf muss man sich dann beim Hochfahren eines ganzen Landes gefasstmachen?

Für mich passt das einfach nicht zusammen: Einerseits halten sich Millionen von Leuten beinahe zwei Monate lang an die Verordnungen der Regierung. Sie stellen ihre Alltage von Grund auf um, verlegen ihre Arbeitsplätze ins traute Heim, gehen nur wenn nötig nach draussen und kümmern sich um Mitmenschen, von denen sie bis vor Kurzem höchstens den Nachnamen kannten.

Aber an dem Tag, an dem die Baumärkte ihre Schiebetüren entriegeln, belagern Tausende und Abertausende dieser vermeintlich vernünftigen und verantwortungsbewussten Zeitgenossen schon in aller Herrgottsfrühe die Obis, Hornbachs, Jumbos und Do-its, weil der Kauf eines neuen Akkubohrers keinen Tag länger Aufschub duldet.

Sie stürmen die Gartencenter und Landifilialen, als ob es ab morgen keinen Mulch und keine Schüfeli mehr gäbe, und wenn sie auch nur gerüchteweise vernehmen würden, dass ein Coiffeur in Sargans zwischen 14.45 und 15 Uhr noch einen Termin frei hat, würden sie auf der Stelle in Richtung Ostschweiz losfahren.

Diese Leute werden vor ihrer Lieblingsbeiz also schon bald mit zwei Metern Abstand voneinander warten, bis ein Tisch frei wird? Sich die Hände desinfizieren, bevor sie auf den Markt gehen, um jede Zucchetti einzeln auf ihre Reife abzutatschen? Bei Museumsbesuchen auf die Markierungen am Boden achten?

Aber gewiss doch.

Wegen dieser Lockerungen – beziehungsweise: wegen der Art und Weise, wie die Menschen damit umgehen – könnte Ende Juli gemäss Experten die zweite Infektionswelle über die Schweiz schwappen. Daraufhin würde die Nation erneut ins Wachkoma versetzt.

Für jene, welche dafür massgeblich mitverantwortlich sein werden, wäre das dann der ultimative Beweis dafür, dass der Bundesrat im Kampf gegen Covid-19 alles falsch macht, was er falschmachen kann.

Die neue Virklichkeit (44)

Jemand muss es ja machen: Tess inspiziert die Metzgerei Hori in Burgdorf.

Corona und seine Auswirkungen auf die Psyche der Tiere: Das ist, glaube ich, ein von der Wissenschaft noch weitgehend ungepflügtes Feld, aber damit eilt es ja nicht; im Moment gibt es sicher noch Wichtigeres zu erforschen.

Physisch scheint alles klar zu sein: In der Schweiz stellen Tiere für Menschen kein Infektionsrisiko dar. Sie verbreiten das Virus, zumindest hierzulande, nicht weiter, wie das Bundesamt für Gesundheit schreibt.

Aber: Reden Katzen, wenn sie sich auf einem Dach treffen, genauso automatisch über die Seuche wie die Menschen von Balkon zu Balkon? Zwitschern die Spatzen einander frühmorgens die neusten Infektionszahlen zu? Achten Goldfische in ihren Gläsern pingelig darauf, voneinander zwei Meter Abstand zu halten?

Anzeichen dafür, dass Häftlinge in Zoos sich anders verhalten als vor dem Einmarsch der Truppen des allmächtigen Covid-19, gibt es. Die Affen zum Beispiel würden normalerweise intensiv den Besucherinnen und Besuchern zuschauen, sagte Kurator Adrian Baumeyer vom Basler Zolli gegenüber dem St. Galler Tagblatt. Jetzt, wo die engsten Verwandten wegblieben, mache sich bei ihnen Langeweile breit.

Die Zebras seien ständig am Beobachten, wer an ihrem Gehege vorbeigeht. Das habe mit den Instinkten zu tun: Ihre natürlichen Feinde würden nie in Herden auftreten. Bei den paar wenigen Leuten, die nun durch die Anlage schlendern, wüssten sie deshalb nie, ob es sich um harmlose Gäste oder blutrünstige Jäger handelt.

Für Hunde und Katzen herrschen aktuell paradiesische Zustände: Ihre Chefinnen und Chefs verbringen ihre Zeit im Home Office oder – die Übergänge mögen in Einzelfällen fliessend sein – vor dem Fernseher, die Kinder haben ebenfalls Hausarrest. Eine Rundumdieuhr-Bespassung ist also gewährleistet.

Der einen Freud ist der anderen Angst: Unzählige Betreiberinnen und Betreiber von Tierhorten und -hotels liegen, von Existenzsorgen geplagt, seit vielen Nächten wach, weil ihnen ein grosser Teil ihrer Kundschaft abhanden kam.

Nicht nur die Tierhalterinnen und -halter nutzen die Zwangspause, um mehr Zeit mit ihren Lieblingen zu verbringen. Auch Menschen, die selber keine Haustiere haben, werden immer öfter in vierbeiniger Begleitung gesichtet. Sie leihen sich regelmässig den Hund des Nachbarn aus, um die eigenen vier Wände allen bundesrätlichen Weisungen zum Trotz für ein Stündchen verlassen zu dürfen, ohne dafür böse Blicke zu ernten.

Von dem Bedürfnis nach Bewegung und frischer Luft profitieren Krisengewinnler in Spanien: Die sogenannten Opportunistas Coronas vermieten Hunde für Spaziergänge. Falls dieses Modell Schule macht, müssen junge Leute, die sich ihr Studium bisher damit finanzierten, anderer Leute Dackel, Labradore oder Golden Retrievers auszuführen, sich bald nach alternativen Einkommensquellen umsehen.

Für einige von ihnen dürfte das kein Problem sein: Wer sich mit Vögeln statt mit Hunden das eine und andere Nötli hinzuverdienen will, meldet sich einfach beim nächstbesten Escortservice.

Was Tess betrifft: Abgesehen davon, dass sie rund um die Uhr befürchtet, in den nächsten zehn Minuten elendiglich zu verhungern – dieses Gefühl hat aber nichts mit Viren zu tun; das kennt sie seit dem Tag ihrer Geburt – geht es ihr prächtig.

Gestern feierte sie ein Wiedersehen mit Hans-Peter Horisberger. Der Burgdorfer Metzger zählt seit jeher zu ihren allerbesten Kumpels und weiss, was er zu tun hat, um sich ihre Gunst zu erhalten: Kaum hatte er die Meite auf dem Parkplatz hinter seinem Laden entdeckt, eilte er zur Auslage und holte für sie eine Hampfele Ghackets.

Tiptopp zwäg ist auch Tess‘ Freundin Nanuk aus dem aargauischen Fricktal. Sie beugte Futterengpässen vor, indem sie unmittelbar nach dem Lockdown begann, Toilettenpapier gegen Gudis einzutauschen.

Zwei Rollen WC-Papier für ein Stück getrockneter Rinderlunge: Nanuk weiss, wie hund auch in Krisenzeiten nie hungert. (Bild: Sarah Bergmann und Pascal Grütter)

Die neue Virklichkeit (43)

„Ich frage mich manchmal, ob wir für das, was wir vor Corona hatten, genügend dankbar waren“, sagt Christian Häni, der Chef der Berner Mundartband Halunke. (Bild: Marc Riesen, mrphoto.ch)

Während ich auch gestern lebenrettend daheimsass, fragte ich mich auf einmal, was eigentlich Popmusiker machen, wenn sie Hausarrest haben. Um das zu klären, rief ich Christian Häni, den Gründer und Kopf der Berner Mundartband Halunke, an. Weils grad in Einem zuging, besprachen wir gleich das grosse Ganze.

Heute hier, morgen da: Bis es mit Corona losging, waren Musikerinnen und Musiker ständig unterwegs. Wie ist das jetzt?

Christian Häni: Eigentlich wie sonst, nur ohne Konzerte.

Das heisst…

…wir versuchen, ganz normal weiterzuarbeiten. Natürlich fehlen uns die Auftritte und die Begegnungen mit den Menschen, die an unsere Konzerte kommen, sehr. Aber das ist nur ein Teil unserer Büez. Wir sind unsere eigene Plattenfirma, kümmern uns selber ums Marketing und komponieren und produzieren für andere Künstler. Um unsere Fans bei Laune zu halten, sind wir auch intensiv auf Social Media-Kanälen aktiv.

„Wir“: Das sind in erster Linie deine Frau Anja und du.

Richtig.

Dass ihr – anders als viele andere – nicht einfach die Zeit totschlagt, zeigtet ihr letzte Woche: Am Freitag erschien eure neue Single „240 Tusig“.

Ja, aber die war schon im Februar fertig. Damals legten wir fest, dass wir sie am 24. April veröffentlichen werden. In den letzten Wochen haben wir häufig darüber nachgedacht, ob jetzt, mitten in dieser Krise, wirklich der richtige Zeitpunkt sei, um ein Lied unter die Leute zu bringen, das sich inhaltlich null mit der aktuellen Situation befasst. Doch dann fanden wir: das passt tiptopp. Die Menschen sind ja tagein und -aus mit schweren Themen konfrontiert. Da kann etwas Leichtes zwischendurch sicher nicht schaden.

240 Tusig“ ist ein Liebeslied.

Genau.

Wieso komponieren Popmusiker eigentlich immer Liebeslieder?

Vermutlich, weil die Liebe etwas ist, woran sich alle festhalten können. Liebe kann man für einen Menschen genauso empfinden wie für einen Ort oder einem Gegenstand. Ich schätze, dass sich 90 Prozent aller Songs, die je geschrieben worden, um die Liebe, das Weggehen und das Zurückkehren drehen. Jeder und jede, der sich damit beschäftigt, findet dazu einen anderen Zugang. Das finde ich sehr spannend.

Wann erscheint euer Corona-Song?

Ich glaube, nie. Ich bin der Falsche dafür. Ganz am Anfang, als sich Covid-19 der Schweiz näherte, überlegte ich mir gelegentlich, wie ich all die Gedanken, die mir dabei durch den Kopf gingen, in einen Song packen könnte. Aber dann sagte ich mir, dass das die Lage kaum verbessern würde, und dass ich deshalb ohne Weiteres darauf verzichten kann, sie musikalisch zu verwerten.

Aber angenommen, du würdest ein Lied über Corona schreiben: Gäbe das eine traurige Ballade oder etwas aufstellend Lüpfiges?

Wahrscheinlich hätte das Lied einen sentimentalen Unterton. Ziemlich sicher ginge es textlich in Richtung Sehnsucht, Fernweh oder Hinterhertrauern. Ich frage mich manchmal, ob wir für das, was wir vor Corona hatten, genügend dankbar waren. Das würde sicher durchschimmern. Wenn ich den Song jetzt schreiben würde, könnte er nach Reggae oder Punk klingen. Reggae gäbe den Sorgen und Sörgelchen, die uns seit spätestens Mitte März umtreiben, eine ironische Note. Punk würde die Ängste, den Ärger und den Frust, den alle mehr oder weniger ausgeprägt verspüren, unterstreichen.

Aber, eben: Dieses Lied werden die Halunke nie spielen.

Nein.

Weil es nichts brächte.

Was etwas bringt, ist, sich an die Vorgaben und Regeln der Leute halten, die etwas zu sagen haben. Diese Leute machen das übrigens super.

Wie kreativ kann man sein, wenn man rund um die Uhr zuhause sitzt?

Das ist für uns kein Problem. Grundsätzlich gilt: Je dunkler die Zeiten, desto kreativer werde ich. Und: Je neugieriger jemand von Natur aus ist, desto leichter fällt es ihm oder ihr, diese Neugierde in Ideen zu verwandeln.

Wie verbringst du deine Tage?

Ich stehe jeden Morgen früh auf, wobei „früh“ heisst: gegen 10 Uhr. Dann gehe ich zwei Stunden mit Shaila, unserem Hund, spazieren, treibe Sport, koche und so weiter. Wir haben in unserer Wohnung ein Tonstudiöli. Darin tüfteln wir stundenlang an neuen Liedern herum. Dort entdeckte ich neulich auch meine böse Seite: Etwas Technisches funktionierte nicht, wie ich mir das vorgestellt hatte. Das machte mich richtig hässig.

A propos „hässig“: Seit bald zwei Monaten höcklen Anja und du quasi eingesperrt aufeinander. Habt ihr euch in dieser Zeit schon einmal so richtig gestritten?

(Lacht) Nicht häufiger als normal. Nein, ernsthaft: Dass wir ständig zusammensind, ist für uns nichts Neues. Wir unternahmen schon immer das meiste gemeinsam. Wir haben einen praktisch identischen Freundeskreis, und ich bin überhaupt nicht der Typ, der sich mit seinen Kumpels jede Woche zu einem Männerabend treffen muss.

In diesem Jahr werden die Halunke zehnjährig. Gross feiern könnt ihr dieses Jubiläum nicht.

Nein.

Wieviele Konzerte musstet ihr wegen Corona absagen?

Alle. Insgesamt wurden ungefähr 30 Auftritte gestrichen. Neben den grossen Openairs sind auch Engagements an der Bingo-Show von Beat Schlatter, an Hochzeiten oder an anderen Privatanlässen betroffen. Unser erstes Konzert des Jubiläumsjahres gaben wir am 1. Januar am „Touch the Mountains“ in Interlaken. Das war mit 28 000 Zuschauerinnen und Zuschauern unser bisher grösster Auftritt – und vielleicht auch unser letzter. Wenn das so sein sollte, wäre es wenigstens ein toller Abschluss unserer Karriere gewesen.

Wird in diesem Jahr noch irgendjemand irgendein Konzert besuchen können?

Der Sommer dürfte gelaufen sein. Aber vielleicht gibt es im Herbst wieder Clubgigs vor 100 bis 150 Leuten. Das wäre dann aber wohl schon das höchste der Gefühle. Wir hoffen jedenfalls weiter: Im November möchten wir eine Jubiläums-Clubtour spielen.

„Natürlich fehlen uns die Auftritte und die Begegnungen mit den Menschen, die an unsere Konzerte kommen, sehr.“

(Weitere Infos über die Halunke gibts hier.)

Die neue Virklichkeit (42)

Ohne Klinikkittel, OP-Handschuhe und Schutzmasken kein Flug: Gran Canaria ist weiter in die Ferne gerückt als der Mond.

Nach anderthalb Monaten des Kurz- oder Überhauptnichtmehrarbeitens treibt manche Leute primär etwas um: ihre Ferienansprüche. „Wenn ich im März wegen Corona nicht nach Frankreich fahren konnte – kann ich das dann im Dezember nachholen?“: Mit Fragen dieser Art sehen sich Arbeitgeber, Konsumentenschutzorganisationen und Gewerkschaften konfrontiert, während die Wirtschaft talwärts fährt und die Arbeitslosenkurven in die Höhe klettern.

Falls ich Geschäftsführer eines Unternehmens wäre, das seit Wochen stillsteht, und einer meiner Mitarbeitenden möchte von mir genau dann, wenn ich den Betrieb wieder hochfahren kann, wissen, ob er für zwei, drei Wochen verschwinden dürfe – ich würde ihm das auf der Stelle bewilligen, ihm aber gleichzeitig sagen, er brauche nachher nicht mehr zurückzukommen; jedenfalls nicht in meine Firma.

Auch in meiner Agenda ist noch eine Auszeit vermerkt: Zwischen dem 7. bis dem 28. Juni steht dort jeden Tag „Gran Canaria“.

Wies aussieht, muss ich auch diese Einträge löschen. Dann ist der Kalender, von ein paar wenigen Gerichtsberichterstattungsterminen abgesehen, leer. Ich lasse nun eine Anwältin abklären, ob die Papeterie mir die Kosten dafür zurückerstatten muss. Notfalls zerre ich den Laden bis nach Lausanne und Strassburg und von dort aus weiter ins „Kassensturz“-Studio.

Als ich das letzte Mal mit meinem Freund Martin vom Reisebüro auf der Insel war, lagen wir in unserem Hotel in Playa del Inglés inmitten einer Horde Engländer, Deutscher, Holländer und Schweizer am Pool, und während uns die Sonne vom wolkenfreien Himmel herunter knusprig braun brannte, sagte ich aus keinem besonderen Grund: „Stell dir vor, man würde auf den Kanaren den Tourismus verbieten. Die Wirtschaft auf der Insel wäre von heute auf morgen tot.“

Wenig später mussten die Touristen ihre Plätze für die Viren räumen, wobei ich nicht davon ausgehe, dass die Chäferli jeden Morgen um 4 Uhr aufstehen, um die Plätze am Schwimmbecken mit Handtüechli zu reservieren: Gegen Covid-19 haben die Angehörigen der Liegen-Besatzungstruppen auch vom IQ her keine Chance.

Die „Zeit“ versuchte neulich, ihren Leserinnen und Lesern eine Vorstellung vom Flugverkehr der Zukunft zu vermitteln. In dem Artikel, der sich leider hinter der Bezahlschranke verbirgt, heisst es:

„Flughäfen dürften statt wie bisher an Einkaufspassagen mehr an Notfallkrankenhäuser erinnern und das womöglich noch für lange Zeit. Und auch an Bord herrscht statt Komfort vor allem Klinikgefühl.“

Mit den Konsumtempeln von heute gestern hätten die Airports nur noch wenig gemeinsam: In den Abflug- und Ankunftshallen würden statt Werbetafeln für Uhren, Parfüms und Schmuck Informationsschilder hängen. Ständig messen einem jemand das Fieber, nur heisse das nicht „Fiebermessen“, sondern „Temperaturscreening“. Aber immerhin: Diese Checks erfolgen dem Vernehmen nach nicht anal, sondern ohral.

Im Flughafen von Dubai lasse sich – zumindest theoretisch – besichtigen, was die Reisenden rund um den Erdball erwarte: Die Schalter seien untereinander und von den Kunden durch Plexiglas getrennt. Wer hineinwolle, müsse Mundschutz und Einmalhandschuhe anlegen. Das Schalterpersonal sei mit Schutzbrillen ausgerüstet und trage über den Uniformen Klinikkittel.

Um die Check-ins kontaktlos abzuwickeln, würden Lesegeräte die Buchungsdaten, Pässe oder Vielfliegerkarten registrieren. Zu den Kontrollen des Handgepäcks und der Pässe seien höchstens ein halbes Dutzend Reisende aufs Mal zugelassen, notierten die Reporter.

In Zukunft würden die Kundinnen und Kunden durch Angestellte in weissen Jacken, Desinfektionsdurchsagen und ständige Masken-Kontrollen „bis an den Flugsessel“ begleitet. Dazu teile „eine Art Zugangsampel“ die Passagiere in Einsteigegruppen von höchstens zehn Personen. Diese Massnahme diene dazu, „das Gedrängel im Gang zu verhindern“.

Kein Gstungg mehr beim Ein- und Aussteigen?!?

Es ist nicht zu fassen: Worüber sich Heerscharen von Forschern jahrzehntelang vergeblich die Köpfe zerbrachen, macht Corona über Nacht möglich.

Die Tempi, in denen die Fluggäste allerlei Hygiene- und Kosmetikartikel samt dem kompletten Elektronikequipment mit an Bord schleppen durften, seien vorläufig passati, prognostiziert die „Zeit“ unter Berufung auf Luftfahrtexperten weiter. Das Handgepäck sei „auf ein kleines Stück“ beschränkt. So entfalle das Risiko, mit einem schmutzigen Rollkoffer Keime in die Kabine zu bringen. Darüberhinaus blockiere, wer nur eine Minitasche dabeihabe, nicht die Mittelgänge, bis er in den Gepäckfächern Lücken für all seinen Plunder gefunden hat.

Abstriche gelte es auch in Sachen „Bordverpflegung“ und „Versäuberung“ hinzunehmen: „Zwar dürfen Passagiere die Masken zum Essen und Trinken verschieben. Doch so richtig appetitlich wird das Catering künftig nicht“, warnt die „Zeit“. Statt Mehrgangmenüs würden die Airlines „bestenfalls Stullenpakete“ anbieten.

Alkohol gebe es in rauen Mengen, aber nur zum Desinfizieren. Eine Bordtoilette werde in der Regel von 50 bis 90 Personen frequentiert. „Da kann sich vor der Landung nicht jeder auch nur einmal die Hände waschen“, sage ein Experte. Die WC-Kabinchen würden umgebaut: „Künftig haben Klos und Waschbecken keimtötende Oberflächen und sind berührungslos zu bedienen.“

„Der Weg ist das Ziel“, murmelte der grosse römische Mathematiker Daedalus, als er missmutig aus dem Backstagebereich des Kolosseums zu den Löwen in der Arena schlurfte, aber das war früher.

Heute gilt: Der Weg ähnelt einem Spaziergang durch die Intensivstation, am Ziel herrscht eine Stimmung wie auf dem Friedhof.

Werde ich Gran Canaria unter diesen Umständen je wiedersehen wollen?

Auch wenns jetzt kurz chly wehtut: Non lo clero.

Die neue Virklichkeit (41)

Mehr Freizeit, weniger Business: Das sollte nach Corona die neue Kleiderordnung bleiben (ein anderes Symbolbild war weltweit gerade nicht vorrätig).

Gut 2400 Menschen lasen am letzten Freitag, dass ich mit wachsender Vhairzweiflung jemanden suche, der oder die mir nach eigenem Gutdünken die Haare schneidet. Die Anzahl der Personen, die sich auf die Einladung zur kreativen Entfaltung am lebenden Objekt hin bei mir meldeten, betrug – Stand jetzt – exakt Null (in Zahlen: 0).

Ich bin deswegen weder beleidigt noch eingeschnappt noch sonst etwas; WIRKLICH NICHT!!!

Dann lasse ich die Frise halt weiterwuchern, bis die Figaros und Figaretten ihre Wartelisten mit dem Zwölferrasierer (falls für die nächste geschäftliche Baisse nochly öppis stehenbleiben sollte) oder dem Fünferfräser (was bis zur zweiten Virenwelle hinhalten dürfte) gestutzt haben.

Wie ich aussehe, kann mir ja wurst sein. Ich begegne mir nur selten auf der Strasse, und falls das doch einmal passieren sollte, dürfte ich wohl sagen: nennenswerte Unterschiede zum inzwischen ebenfalls leicht vergammelt wirkenden Rest der Welt sind nicht zu erkennen.

Letzte Woche zum Beispiel kreuzte ein Geschäftsmann meinen Weg, der bis Mitte März auch in seiner Freizeit nur in feinstes Tuch gehüllt durch die Häuserschluchten von Burgdorf zu flanieren pflegte. Nun bummelte er in Jeans und T-Shirt und nachlässig rasiert über die verblütenstaubten Pflastersteine der Altstadt aller Altstädte und wirkte so gleich viel zugänglicher, um nicht zu sagen: menschlicher.

Das kann von mir aus nach Corona so bleiben: „Casual“ für alle und immer! Weg mit dem Kastendenken! Und überhaupt: Get up, stand up, auch und ganz besonders jetzt, wo wir unser Dasein mehr denn je sitzend und liegend fristen.

A propos „yeah, man!“: Ab heute dürfen die Spitäler wieder nichtdringliche Eingriffe vornehmen, die Coiffeur-, Massage- und Kosmetikstudios ihre Betriebe neu starten und Baumärkte, Gartencenter, Blumenläden und Gärtnereien ihre Türen fürs Publikum öffnen.

Wir feiern also, sozusagen, den Anfang vom Ende von Corona, und das ist unabhängig davon, wie dieser Tag verläuft, schon einmal eine gute Nachricht.

Vielleicht auch, wer weiss?, für das horizontale Gewerbe, denn was heisst „Massage-studio“? Sind damit nur diese Studios gemeint – oder auch jene? Falls Letztere inbegriffen sein sollten: Wie muss mann sich das vorstellen? Beide mit Gesichtsmasken und OP-Handschuhen, und bevors losgeht, wird nicht nur kontaktlos mit der Karte bezahlt, sondern auch (nein: vor allem) individuell und mit zwei Metern Abstand ganzkörperdesinzifiert?

Und was ist mit den Tarifen? Die Älteren hier werden sich vielleicht noch erinnern, weils damals in allen Zeitungen stand: Kaum wars mit Aids losgegangen, schnellten in den Bordellen zäntume die Preise für ungeschützten Verkehr in die Höhe. Wird das auch jetzt der Fall sein? 100 Stutz für normal und 150 für mit ohne Mundschutz?

Mit Aids verhielt es sich seinerzeit übrigens ähnlich wie heute mit Covid-19: Bei allem Elend, das die Seuche über die Menschheit brachte, hatte sie auch gute Seiten. Ohne Aids wäre „Philadelphia“ nicht gedreht und Bruce Springsteen nie gebeten worden, einen Song zu diesem Film zu schreiben.

Wenn die Ärzte und Pflegenden in den Spitälern sich gleich wieder auch um Normalsterbliche kümmern, könnte es vielleicht nicht schaden, wenn ihre Chefs bei ihren morgendlichen Briefings klären würden, was genau an Nichtdringlichem ansteht.

Ein Freund von mir, der nach einem Badezimmerunfall wochenlang auf die Behandlung seines gebrochenen Schlüsselbeins warten musste, erhielt vor wenigen Tagen einen Anruf aus der Klinik seines Vertrauens. Die Person am anderen Ende der Leitung teilte ihm mit, dass er nun bald dran sei, man sich der guten Ordnung halber aber noch einmal bei ihm erkundigen wolle, welches seiner Knie operiert werden müsse.

Eine weitere gute Frage ist, ob die Kassen in den hiesigen Baumärkten und Gartencentern tatsächlich so laut klingeln werden wie von den Betreiberinnen und Betreibern erhofft. In Deutschland, wo einige Geschäfte schon vor einer Woche entlockt wurden, hält sich die Freude am Geldausgeben offenbar noch im Rahmen:

„In den Innenstädten waren wieder fast halb so viele Passanten wie zu Vor-Corona-Zeiten unterwegs. Während des beinahe kompletten Shutdowns waren es teils nur zehn Prozent, wie die Kölner Beratungsfirma Hystreet.com festgestellt hat. Sie misst mithilfe von fest installierten Laserscannern die Passantenfrequenz an 118 Standorten in 57 Städten Deutschlands.

Geschaut wurde viel, gekauft wenig. ‚Bisher steigt die Frequenz der Kunden stärker als die Kauflust‘, sagt Jens von Wedel, Handelsexperte der Unternehmensberatung Oliver Wyman. Offenbar reicht vielen Menschen der Schaufensterbummel zum Zeitvertreib“, berichtet Spiegel Online in einem hinter der Bezahlschranke versteckten Artikel.

Aber: „Qui vivra, verrà“, sagte meine Grossmutter immer. Wenn ich gerade so an sie denke: Zum Glück blieb ihr erspart, Corona miterleben zu müssen.