Die neue Virklichkeit (40)

Freie Zeit gibt es wie Sand am Meer. Sie einigermassen sinnvoll zu nutzen, wird aber zunehmend zu einer Herausforderung.

Soviel Nichts wie gestern gab es glaub noch an keinem der 19 915 Tage, an denen ich nun schon auf der Welt bin. Zwischen 4.15 und 22.45 Uhr plauderte ich kurz mit drei Leuten, schrieb ich eine Mitteilung für eine Nachbarschaftshilfeorganisation, mixte ich einen Bananenapfelmangomaracuja-Smoothie und fuhr ich mit dem Velo einmal um den Schlosshoger. Der Rest der Zeit verstrich ungenutzt.

Wie „die Jugend“ in den frühen 80ern hatte ich null Bock auf irgendetwas. Nicht einmal ums Reden wars mir. Als ich meine Stimme zum ersten Mal hörte, war der Tag schon beinahe vorbei.

Auf mein iPad werden jede Woche die neusten Ausgaben des „Spiegel“, der „Zeit“ und des Magazins der „Süddeutschen“ geladen. Im Archiv liegen zig Ausgaben des „Rolling Stone“, der „Weltwoche“ und des „Folio“ der NZZ, doch nichts von alldem reizte mich zum Lesen, und ob ich mich über die Tagesaktualitäten heute oder erst übermorgen aufdatiere, spielt längst keine Rolle mehr. Es geht ja doch immer nur um das Eine:

Etwas monothematisch: Zehn von zehn Artikeln auf BZ Online drehten sich gestern Abend um Corona.

Andere verschlingen, was ihnen in die Finger kommt. Wenn ich unter der Woche kurz nach draussen gehe, sehe ich häufig das Auto, mit dem Elisabeth Zäch und Daniel Schmidt die Leserättinnen und -ratten in Burgdorf und Umgebung von der Buchhandlung am Kronenplatz aus mit frischem Futter versorgen.

Dann stelle ich mir vor, wie die beiden einen Sack voller Bücher vor einer Türe deponieren und wie jemand die kostbare Ware wenig später ins Haus holt und verteilt. Die einen verziehen sich mit der Lektüre in die Küche, die anderen ins Bett, wieder andere aufs Sofa und ins Kinderzimmer, und schon nach wenigen Minuten sind alle in eine Welt abgetaucht, in der es keine Viren gibt und keine Notstandsverordnungen und keine Medienkonferenzen mit Infektionskurven und Reproduktionszahlen und nach Kantonen aufgeschlüsselten Mortalitätsstatistiken.

Auf Facebook kursiert diese Nachricht:

„6 Wochen ‚Lockdown‘ liegen nun hinter mir. 3 Kilometer morgens spazieren, abends 5 Kilometer joggen, weder Fleisch noch Milchprodukte. Täglich frisches Obst und Gemüse aus der Region und jede Mahlzeit selbst gekocht. Habe so viel Energie und stehe jeden Morgen um sechs Uhr voller Tatendrang auf!

Kein Fernsehen, lese – nein verschlinge – immer mindestens drei Bücher parallel. Endlich mal die Zeit die Meisterwerke der Literatur zu lesen. Ulysses gerade fertig, jetzt kommt der Urfaust.

Die Entwicklung ist phantastisch. Ich könnte Bäume ausreissen. Kein Alkohol! Zuckerfrei, glutenfrei, koffeinfrei und mittags statt Junkfood eine Runde Krafttraining oder Yoga. Die Fettpolster sind weg, Muskelmasse wächst und das Sixpack wird erkennbar.

Ich habe keine Ahnung, wessen Status das ist, aber ich bin voller ehrfurchtsvollem Staunen. Deshalb hab ich ihn mal kopiert und eingefügt, um ihn mit euch zu teilen.“

Offensichtlich geht es auch anderen so: Nie war so viel freie Zeit und sowenig Antrieb, sie zu nutzen. Corona führt viele von uns Tag für Tag tiefer in einen Tunnel der Lethargie, aus dem sie – wann auch immer – nur schwerlich wieder herausfinden dürften.

Wird uns die Zeit, die wir wegen dieses Virus Tag für Tag verbrennen, am Ende des Lebens eigentlich angerechnet? Schaut der in einen schwarzen Umhang gehüllte Schiedsrichter Sekunden vor unserer finalen Auswechslung auf die Uhr an seinem knöchernen Handgelenk und flucht ungläubig, „Mist! Der hat aus dem Frühling und Sommer 2020 ja noch fünf Monate Verlängerung zugute!“?

Die neue Virklichkeit (39)

Langsam wirds auch für mich Zeit für eine Schur (falls Mamma mia mitlesen sollte: Das ist ein Symbolbild!).

Einen grossen Teil des gestrigen Freitags brachte ich damit zu, Coiffeusen und Coiffeure anzurufen, um einen Termin für einen flotten Sommerschnitt zu vereinbaren. Aber irgendwie scheinen alle, die das husch erledigen könnten, bis mindestens November 2021 ausgebucht zu sein.

Deshalb machen wir das jetzt einfach so: Wer schon immer mal wissen wollte, wie es sich anfühlt, nach Lust und Laune in fremden Haaren herumzufuhrwerken, kann das auf meinem Kopf tun. Ich stelle mich Hobbycoiffeusen und -coiffeuren als Modell zur Verfügung. Was dabei herauskommt, ist so egal wie alles andere, was uns vor ein paar Wochen noch über alle Massen beschäftigt hatte.

Ich habe auf unbestimmte Zeit hinaus keine Geschäftstermine mit Leuten, die schampar viel Wert auf Äusserlichkeiten legen, und wenn doch, könnte ich ja immer noch sagen, das sei Sabine gewesen, damals, Mitte Februar, als wir glaubten, so ein Sturm sei das Dümmste, was uns passieren könnte, wir uns zur Begrüssung die Hände reichten, die meisten einen längeren Arbeitsweg hatten als die paar Schritte vom Schlafzimmer zum Stubentisch, die Kinder für die Schule lernten statt fürs Mami, wir uns spontan zum Nachtessen mit Freunden in einem gemütlichen Beizli verabredeten und überhaupt all the richtigen troubles seemed so far away und keine Viren lookten as though they’re here to stay.

Was das Equipment betrifft: nunja. Bei mir zuhause kann ich mit Shampoo, einer Schere, einem Handrasierer, einer Bürste, einer Flasche Desinfektionsmittel und einem Staubsauger dienen. Alles Weitere (Schutzmaske, Astronautenanzug) müsste mitgebracht werden.

Auf Schlee und Artverwandtes reagiere ich wegen meiner Schmier- und Chläbzeugintoleranz (SCZI) allergisch. Die Schur erledigen wir auf dem Balkon. Zur Stärkung in den grosszügig bemessenen Pausen biete ich Kafi, Mineralwasser, Cola Zero oder selbstgemachte Smoothies an.

Um dem Tschenderkram Genüge zu tun: Bei gleicher Eignung werden Frauen bevorzugt berücksichtigt, aber Lohn gibts keinen (bevors Beschwerden aus den Gleichstellungs-büros hagelt: auch nicht für Männer oder Transisto Transfor sonst jemanden). Zeitlich bin ich extrem flexibel.

Interessentinnen oder Interessenten melden sich in den Kommentaren oder unter +41 76 537 74 84.

Ein Bild von der Frise wird, samt einem Porträt der Künstlerin oder des Künstlers, hier veröffentlicht. Ich verzichte dafür zum Vornherein auf Schadenersatzforderungen.

Die neue Virklichkeit (38)

40 Tage Corona: Das heisst auch 40 Tage unermüdliches Arbeiten daran, tolle Gruppenselfies zu schiessen, ohne die Social Distancing-Regeln zu verletzen (die Dame und den Herrn unter dem Balken braucht das nicht zu kümmern; sie sind verheiratet).

Knapp 40 Tage dauert dieser Lockdown jetzt schon an (ich schreibe extra „dieser“ Lockdown, weil ja niemand sagen kann, wieviele Lockdowns noch folgen werden; vielleicht heissen die „Lockdowns“ irgenwann gar nicht mehr „Lockdowns“, sondern bekommen eigene Namen, „Coronaum“ zum Beispiel. Wenn spätere Generationen etwas zeitlich einordnen wollen, sagen sie, „im Coronaum 3 passierte dieses“ oder „während des Coronaums 11 ereignete sich jenes“, immer vorausgesetzt natürlich, dass es dann überhaupt noch Menschen gibt).

Abgesehen davon, dass ich ausgerechnet an meinem 40. Geburtstag 40 Jahre jung wurde und zwei der besten Alben der Rockgeschichte „40 Trips around the sun“ und „40 Tours around the sun“ heissen, hatte die Zahl 40 für mich nie eine Bedeutung.

Doch jetzt, mit Blick auf das 40 Tage-Jubiläum der Schweizer Corona-Niederlassung, wollte ich wissen, was es mit ihr so auf sich hat, und siehe da:

„40 ist die Symbolzahl der Prüfung, Bewährung, Initiation bzw. für den Tod. Als die verzehnfachte Vier repräsentierte sie Vollkommenheit. Der Ursprung des Vierzig-Tage-Rhythmus lässt sich in Babylonien suchen, wo eine Verbindung des vierzigtägigen Verschwindens des Sternenbildes der Plejaden hinter der Sonne mit Regen, Unwetter und Gefahren beobachtet wurde. Bei der Wiederkehr der Plejaden wurde als Zeichen der Freude ein Bündel aus vierzig Schilfrohren verbrannt“, heisst es bei Wikipedia.

Und weiter: Vom französischen Wort quarante (vierzig) stamme der Ausdruck „Quarantäne“ ab. Im 14. Jahrhundert seien erstmals vierzigtägige Isolationsperioden zur Vermeidung von Pestepidemien verhängt worden.

Das heisst: eigentlich wäre der Spuk heute vorbei, nur liegt die Betonung nicht auf „vorbei“, sondern auf „wäre“.

Seit Corona spielt sich unser Leben im Konjunktiv ab:

Hätten „wir“ im Dezember ernstergenommen, was sich im fernen Wuhan zusammenbraute, hätten „wir“ nicht in aller Eile Notstandsprogramme erarbeiten müssen, als „wir“ drei Monate später realisierten, dass sich die Viren von Italien aus daranmachen, auch Helvetien zu besetzen.

Hätten Herr und Frau Schweizer schon im letzten Jahr Toilettenpapiervorräte angelegt, wäre uns in diesem Frühling manch entwürdigende Szene erspart geblieben.

Wäre dieses Land nicht so unermesslich reich, gäbe es unter den Brücken vermutlich längst keine freien Schlafplätze mehr.

Würden nicht jeden Tag und jede Nacht unzählige Menschen dafür sorgen, dass unzählige andere Menschen auch dann zu essen und trinken haben, wenn sie ihre Wohnungen nicht mehr verlassen dürfen…aber mir wei nid grüble.

40 Tage Corona. Das sind, je nach Verfassung und Betroffenheitsstufe,

40 Tage hoffen,

40 Tage bangen,

40 Tage plangen,

40 Tage Home Office,

40 Tage abstandhalten,

40 Tage meckern,

40 Tage Galgenhumor,

40 Tage Dankbarkeit,

40 Tage Trainerhosen,

40 Tage Rücksichtnahme,

40 Tage Videokonferenzen,

40 Tage selberkochen,

40 Tage lesen,

40 Tage fernsehen,

40 Tage wohnungputzen,

40 Tage Sachen machen, die man zuvor nie machte

40 Tage Dasspieljetztauchkeinerollemehr

und so weiter, und so fort.

40 Tage: Das klingt nach schon ziemlich viel.

Und ist im Vergleich zu dem, was mutmasslich noch kommt, doch erst so nichts.

Die neue Virklichkeit (37)

„Möge der Morgen dich freundlich wecken und dich nicht mit einer dunklen Botschaft erschrecken“: So lautet ein altirischer Segenswunsch, aber irgendwann musste ich ja wieder einmal einen Blick ins Fanpostfach werfen, und das konnte ich heute Morgen genausogut tun wie am Mittag oder, sagen wir, am Abend.

Ganze vier Zuschriften wurden darin seit der letzten Leerung deponiert. Drei von ihnen drehten sich nicht ganz unerwarteterweise um das Thema „Solätte“.

Gott Helf teilte mit: „Viele Beizer machen an der Solätte 1/3 ihres Jahreseinkommens. Nur schon wegen ihnen hätte man die Solätte durchführen müssen. Von den Kindern ganz zu schweigen.“

Herbi blies in ein ähnliches Horn: „Man sollte wegen Coronia nicht alles in Frage stellen. Die Solätte wäre für viele Kmu’s eine Chance gewesen auf die Beine zu kommen.“

Was soll ich dazu sagen? Auskünfte zum Thema „Umsatzbolzen trotz allem“ könnte sicher die Staatsanwaltschaft Innsbruck erteilen, aber die hat wegen des Falls „Ischgl“ grad noch anderes zu tun.

Eine Stammleserin aus Burgdorf schickte mir „Rosegi Gedanke“:

„Wie me doch am Alte chläbt.

So mängisch hei mir’s

scho erläbt,

u jedes Johr isch’s

wieder glych.

Was löst de ou

das Bsundere uus?

Isch’s d‘ Chlätterrose

vor em Huus?

Isch’s ds grosse

Buschelfrieseli-Beet

bi der Fründin Annegret?

Isch’s es Cherli,

flott im Takt,

wo eim gäng vo neuem packt?

Säget, geit’s Euch ou e so?

Äbe doch, de bin i froh.

We me gspürt um was es geit,

ou wenn haut öppe eine seit:

„Sentimental –

für die vo geschter.“

Mira doch –

Drum umso feschter.

Wie mir doch

nach so viel Jahre

üses Gspüri töif bewahre,

u chly luege wyter z gä.

Es tät bigoscht

mi wunger näh, wär sech da 

no sperze wett.

Doch nid gäg d‘ Solennität!“

Dieses Gedicht, schrieb sie, habe ihre Mutter vor 23 Jahren verfasst.

Jetzt verstehe ich besser, wieso die Burgdorferinnen und Burgdorfer dermassen an ihrer Solätte hängen.

Ein weiterer Leser – er nennt sich tatsächlich so: L.Eser – beschwerte sich über den Beitrag, in dem ich laut darüber nachgedacht hatte, ob ein Mitglied der Landesregierung neulich zum Coiffeur habe gehen dürfen, obwohl die Salons coronabedingt nach wie vor geschlossen sind.

„Können sie das beweisen? Ist das relevant?“, wollte er wissen, wobei ich zwischen den Zeilen einen leicht säuerlichen Geruch wahrzunehmen glaubte.

In aller Kürze: Nein. Und nein.

Mit einem einstimmigen ja muss hingegen die Frage beantwortet werden, ob sich ehemalige Bundesräte in die Angelegenheiten ihrer Nachfolger mischen sollen. Ohne die Ratschläge der Alten wären die jungen Schnösel nämlich komplett aufgeschmissen:

Und damit: ab an den Herd. Im „Stadthaus“ orderte ich für zwei Freunde, eine Freundin und mich zwei Cordon bleus ohne Beilagen und zwei mittelscharf gewürzte Tatars plus je vier Suppen und Desserts. Das Bestellte wurde von Christian Bolliger, dem Küchenchef himself, gestern Abend à la minute in den vierten Stock „meines“ Hauses geliefert und schmeckte, in einem Wort, superduper.

Um den Finish der Cordon bleus und das Aufwärmen der Suppe mussten wir uns selber kümmern, aber das stellte kein Problem dar: Meine Gäste waren Tabea und Manuel Hölterhoff, die im Kornhausquartier das Restaurant Serendib betreiben, sowie ein Gault Millau-Kritiker.

Für Nicht-Feinschmecker: Das ist, wie Virgil van Dijk, Cristiano Ronaldo und Lionel Messi in seiner Grümpelturniermannschaft zu haben oder als Nurunterderdusche-
sänger mit Lang Lang, Keith Jarrett und Anne-Sophie Mutter kammermusizieren zu dürfen.

Zwei anderen Besucherinnen setzte ich diese Woche eine ohne fremde Hilfe zubereitete Gemüselasagne vor. „Stadthaus“- oder „Serendib“-Niveau hatte sie nicht, aber gestorben ist daran – Stand jetzt – niemand, und das will in Zeiten wie diesen ja schon etwas heissen.

Hier ist das Rezept für sechs Personen:

Man nehme 1 Zwiebel, 2 Rüebli, 2 Peperoni, 1 Esslöffel Olivenöl, 200 Gramm Blattspinat, 1 Bund Basilikum, 1 Dose gehackte Tomaten, 1 Dezi Wasser, chli Salz und wenig Pfeffer, schäle die Zwiebel und die Rüebli, schneide sie mit den Peperoni in Stücke, erwärme das Öl in einer Pfanne, dämpfe das Gemüse an, gebe die Tomaten und das Wasser dazu, lasse alles kurz brodeln, würze das Ganze, reduziere die Hitze, lasse die Sauce eine halbe Stunde lang köcheln und nehme die Pfanne dann vom Herd, um den Spinat und das Basilikum dazuzugeben, und wende sich frohen Mutes der Béchamel-Sauce zu.

Für sie benötigt man je 3 Esslöffel Butter und Weissmehl, 7 Dezi Milch, etwas Salz und Muskat und Pfeffer und geriebenen Parmesan. Man erwärmt die Butter in einer Pfanne, kippt das Mehl dazu, dünstet es mit dem Schwingbesen rührend bei mittlerer Hitze an, ohne, dass es sich verfärbt, nimmt die Pfanne vom Herd, schüttet die Milch hinein, lässt sie aufkochen, reduziert die Hitze, würzt die Sauce, lässt sie noch etwa 10 Minuten lang köcheln, bis sie sämig ist, streut den Käse hinein – und fertig.

Zuguter Letzt bestreicht man eine Auflaufform mit Öl und verteilt darin 4 Esslöffel Béchamel. Dann werden Lasagneblätter lagenweise mit dem Gemüse und der Sauce aufgeschichtet. Zum Schluss: Käse darüber, viel Käse, und ab damit in den auf 200 Grad vorgeheizten Backofen. Nach gut einer halben Stunde wird serviert.

Auf einem der Dächer nebenan sägen und hämmern drei Männer seit Tagen wie die Wilden. Dazu hören sie Melodic Rock aus den 80ern. Was sie da oben bieten, ist absolut sehenswert, aber nid zum Häreluege. Ungesichert laufen sie 10 oder so Meter über dem Boden über Balken und Bretter, als ob es sich um Trottoirs handeln würde. Zwischendurch nageln sie etwas fest, werfen sich Isolationsmaterial zu oder hüpfen husch von A nach B, um etwas zu holen.

Ich beobachte sie mit derselben Faszination, mit der ich im Basler Zoo als Kind die Affli bewunderte, die sich scheinbar schwerelos von Ast zu Ast hangelten (falls einer der Dachdecker gerade mitlesen sollte: Das war nicht so gemeint, wie mans auffassen könnte. Seit ich euch bei eurer Büez zuschaue, gibt es kaum eine Berufsgruppe, vor der ich mehr Respekt habe als die Eure. Getoppt werdet ihr nur noch von den Virologen).

Dabei fällt mir ein: Wieder einmal durchs Dählhölzli zu bummeln – das wäre schon cheibe schön. Wenn das das nächste Mal möglich ist, liegt vermutlich eine dicke Schneedecke auf den Bisons, aber bis dahin sind wir vermutlich alle soweit, dass wir nicht nur die Tage und Wochen nicht mehr auseinanderhalten können, sondern auch die Jahreszeiten.

Die neue Virklichkeit (36)

Wie am Zmorgebuffet: Öppe so dürfte es am nächsten Montag vor den Gartencentern und Baumärkten aussehen.

In gut 120 Stunden haben wirs überstanden, oder ämu fast: Am Montag dürfen die Coiffeur-, Massage und Kosmetikstudios sowie die Baumärkte, Gartencenter, Blumenläden und Gärtnereien ihren Betrieb wieder aufnehmen.

Sosehr ich das all jenen Menschen, welche in diesen Branchen arbeiten, und sämtlichen Zeitgenossinnen und -genossen, die vor Vorfreude auf eine rundumsanierte Frise oder einen neuen Rasenmäher schon heute fast vergitzlen, auch gönnen mag: Ich blicke diesem Tag mit gemischten Gefühlen entgegen. Wer schon Hotelgäste beim Erstürmen des Zmorgebuffets erlebt hat, kann sich mühelos ausmalen, wie es in diesen Geschäften Anfang Woche zu- und hergehen wird.

Ausgerenkte Kiefer, offene Schädelbrüche, zertrümmerte Kniescheiben: In den Spitälern dürften die Betten, aus denen in Erwartung einer tsunamiartigen Corona-Welle vor wenigen Wochen jeder und jede gekippt wurde, der oder die noch selbstständig röcheln konnte und die dann doch mehrheitlich leer blieben, innert kürzester Zeit mit Opfern der Lockdownlockerung belegt sein.

Bis in die Wyniger Bärge stehen vor den Polizeiposten grünblau geprügelte Hobbygärtnerinnen und blutverschmierte Heimwerker wie weiland die Kriegsver-sehrten vor den Sanitätsbaracken in Stalingrad Schlange, um Anzeigen gegen Unbekannt zu erstatten, wobei die Palette der angeblichen Delikte alles abdeckt, was das Strafgesetzbuch zwischen fahrlässiger Körperverletzung und Mord hergibt.

Gleich daneben stehen drei Partyzelte, in denen Versicherungen nach schweren Hagelzügen sonst ihre Drive-ins veranstalten. Darin werden die Beschuldigten, die von Mitgliedern der Broncos noch an der Ladenkasse widerstandsunfähig geprügelt und in Ketten gelegt wurden, abgeurteilt, wobei die Richterinnen und Richter gehalten sind, zügig vürschi zu machen.

Aufgrund der Notlage können sie auf Befragungen von Angeklagten und die Einvernahmen von Zeugen verzichten. Auch mit dem Anhören von Plädoyers brauchen sie keine Zeit zu verplempern: Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sind für diese Schauprozesse ebensowenig vonnötigen wie Verteidigerinnen und Verteidiger.

Aus arbeitsöknomischen Gründen gilt nicht der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“, sondern die Devise „Wegen nichts sitzt der Typ ja nicht hier“. Einziges Ziel ist es, die Kolonnen vor den Zelten zu verkürzen oder, um es auf Coronadeutsch zu formulieren: to flatten the curve.

Wegen des beschränkten Platzangebotes im Regionalgefängnis Burgdorf werden die Verurteilten in Waschanlagen gebracht, wo sie die nächsten Wochen damit zubringen, Autos mit schweren Schaufeln und stumpfen Pickeln vom Blütenstaub zu befreien. Dazu dröhnen aus Lautsprechern ununterbrochen Xavier Naidoos Greatest Hits.

Bis spätestens am 11. Mai muss die unter Rechtsgelehrten durchaus kontrovers diskutierte Übung abgeschlossen ist. Dann öffnen die anderen Läden ihre Türen.