Die neue Virklichkeit (35)

Yo, Mann: Wer Stoff braucht, muss sich etwas einfallen lassen.

Spätnachts höre ich manchmal Stimmen. Um Mitternacht herum treffen sich vor einer stillgelegten Altstadtbeiz, in der dem Betäubungsmittelgesetz bis zum 16. März auf eine relativ unverkrampfte Art und Weise nachgelebt wurde, regelmässig ein paar Männer.

Sie wussten schon lange vor dem Lockdown, was es heisst, Tag für Tag die Zeit totschlagen zu müssen, und gehen auf der Gasse zu vorgerückter Stunde gerne ein letztes Mal durch, was ihnen heute wieder Übles widerfahren war (Scheiss Sozialdienst, Scheiss Bullen, Scheiss Ex, Scheiss alles), bevor sie sich in ihren vom Sozialdienst finanzierten Wohnungen schlafenlegen und, wer weiss?, albträumen, wie die Ex bei einem Polizisten an allem herumchäschperlet.

Neulich hatte einer der Herren Lämpe mit einem Kollegen, dem er offenbar seit geraumer Zeit einen Fünfziger schwach ist. Der Schuldner verwies weinerlich ein ums andere Mal darauf, dass die IV ihm sein Geld noch nicht überwiesen habe, der Gläubiger entgegnete ungerührt, das sei nicht sein Problem. Hier Stoff – da Stutz: so laufe das und basta. Der Disput wurde lauter und lauter, doch als ich dachte, gleich häscherets, verzogen sich die beiden nach irgendwohin.

Sie liessen mich unter meinem halbgeöffneten Dachfensterchen mit einer Frage zurück, die ich mir noch nie gestellt hatte: Wo bekommen Leute mit einem Hang zum Hanf jetzt, wo die einschlägigen Treffpunkte geschlossen sind und ein Dealer auf dem kaum noch frequentierten Bahnhofareal auffallen würde wie ein Schprutz Ketchup auf einem Hochzeitskleid, eigentlich ihre Tabak-, Tee- und Guetzliergänzungsmittel her?

Pfannen, Ponys, Perkussionsinstrumente, Pflanzen, Parkbänke, Penisringe, Pflastersteine, Pflüge, Palmkernöl, Paketadresskleber, Pistolen, Petrischalen, Pedalos, Perserkatzen, polnische Pässe, Perücken, Pizza: Was immer der Mensch zum Leben braucht, lässt sich auch mitten in Corona gäbig online beschaffen, es braucht nicht einmal unbedingt mit einem P zu beginnen.

Wer ein Pfund Marju Marhi Marjuh Gras benötigt, kann jedoch ewig durch die Hochregallager von Amazon oder die Inserateplantagen in der „Tierwelt“ schlurfen, ohne je fündig zu werden.

Vermutlich wird der Vertriebskreislauf mit raffiniert codierten Inseraten in der Lokalzeitung („Frisch ab Biene: Grüner und schwarzer Honig zum Selberdrehen!)“ oder bei als Nachbarschaftshilfe getarnten Hausbesuchen notdürftig in Schwung gehalten, bis der Bundesrat das Versammlungsverbot aufhebt und der Handel vor der Berner Reitschule, auf der Grossen Schanze und andernorts wieder blüht wie hoffentlich bald auch das hochpotente Kraut in der Tomatenplantage des nichtsahnenden Grosis.

Serienkiller nutzen seit Kurzem modernste Kommunikationsmittel, um ihre Leichen plasticsackkompatibel zerlegen zu können, ohne wegen unerlaubten Aufenthalts im Freien eine Busse zu riskieren. Nach der Devise „Stay home – safe lifes“ organisieren sie sich das Werkzeug vom Küchentisch aus via Facebook :

Schwieriger gestaltet sich die Suche nach einem Behältnis für die Exkre Exeku Ejak Körperteile. Auch bei nicht fanatisch ökoorientierten Schwerkriminellen geniesst Plastic inzwischen einen zweifelhaften Ruf, aber aus den cheibe Jutetaschen rinnt einfach zuviel Körperflüssigkeit, und selbst wenn in den Sternen stehen würde, wann bei Nachbars die nächste Tupperwareparty steigt: lesen könnte es ja doch niemand.

Bei uns Bünzlis hingegen wird Vieles auch dann so bleiben, wie es schon immer war, wenn die fünfte Virenwelle über das Land geschwappt ist. Dass Handwerker die frischgestaubsaugte Wohnung mit rundumverdreckten Schuhen betreten etwa, oder dass entfernte Bekannte, die einen um kurz nach 23 Uhr aus dem Schlaf reissen, weil sie sich einfach mal total sponti danach erkundigen wollen, „wies dir so geht“, zum Einstieg fragen, ob sie grad stören, oder dass sich die Kaufenden und Verkaufenden in der Bäckerei wechselseitig je achtmal für die Gipfeli und das Geld – hier Stoff, da Stutz – bedanken, bevor sie zu überlegen beginnen, ob sie wohl langsam erwägen könnten, darüber nachzudenken, sich noch vor Sonnenuntergang voneinander zu verabschieden.

Damit gehts aus der Zukunft huschhusch zurück in die Gegenwart. Heute Nachmittag steht unser vierter Waggu am Emmeufer auf dem Programm; am Abend habe ich Besuch. Dafür muss ich nochly einkaufen gehen.

Das dürfte kein Problem sein: die Gäste kommen zum Essen, nicht zum Kiffen.

Die neue Virklichkeit (34)

Mini Beiz? Dini Beiz? Jedenfalls: geschlossene Beiz, und je Lockdown, desto tiefer versinkt der Aschenbecher in den nächsten Wochen im Blütenstaub. Nur: Was heisst „in den nächsten Wochen“?

Gestern Mittag war ich zum ersten Mal seit Langem wieder einmal in einer Beiz, genauer gesagt: in der „Metzgere“ gleich gegenüber. Die Tische, die Stühle, die Bar: es ist alles da, als ob gleich jemand kommen und fragen würde, was es sein dürfe, aber damit kanns noch dauern.

Wie lange, ist unklar. Am Donnerstag stellten Bundesrätin Simonetta Sommaruga und ihre Kollegen Alain Berset und Guy Parmelin den Gastronomen und ihren Gästen in Aussicht, dass Restaurantbesuche vom 8. Juni an wieder möglich sein könnten. Drei Tage später teilte Parmelin der Bevölkerung via SonntagsZeitung mit, er schliesse nicht aus, dass die Lokale schon „in den nächsten Wochen“ geöffnet werden.

Das braucht kein Widerspruch zu sein. Wenn man die Zeitachse zwischen zwei Aebi-Traktoren made in Burgdorf spannt und die beiden Gefährte mit Vollgas in entgegen-gesetzte Richtungen losknattern lässt, liegt der 8. Juni auf einmal genauso „in den nächsten Wochen“ wie, sagen wir, der 19. August.

Als ich mit dem Cola Zero, das ich aus meinem Kühlschrank mitgebracht hatte, am blütenverstaubten „Metzgere“-Tisch sass und mich wehmütig der Rock’n’Grill-Partys erinnerte, die wir unter deren Lauben veranstaltet haben, fühlte ich mich wie am High Noon vor einem Westernsaloon: Die Schmiedengasse war menschenleer, kein Pferd wieherte auf dem Kronenplatz, kein Klaviergeklimper drang aus der Bar Antonio, kein Gehängter in spe flehte auf der Brüder Schnell-Terrasse um Gnade. In meinem Kopf spielte ein Fremder auf seiner Mundharmonika das Lied vom Tod, aber in dem Moment, in dem die Stromgitarre in das Intro fräste, rollte nicht ein Steppenläufer vorbei, sondern der 461-er Bus.

Genau das muss Samuel P. Hungtinton gemeint haben, als er 1996 „The clash of civilizations“ proklamierte.

Was wäre aus diesem Film wohl geworden, wenn im Poschettli des Bösewichts eine Tuba gesteckt hätte?

Den Rest des Sonntags verbrachte ich mit Romy Schneider (wer wissen will, was während ihrer „3 Tage in Quiberon“ alles passierte: hier ist der Link zu diesem sehr sehenswerten Film) und…äh…Projekten. Den „Tatort“ schaffte ich bis fast zur Hälfte, dann schlief ich trotz Hannelore Elsner auf dem Sofa ein.

Nun ist schon wieder Montag, oder immer noch. „Nobody’s gonna go to school today“ bemerkten die Boomtown Rats im Zusammenhang mit diesem Wochentag schon 1979, wenn auch in einem anderen Kontext.

Damals gings um ein 16-jähriges Mädchen, das aus seinem Elternhaus in San Diego mit einem Gewehr auf die Schule vis-à-vis schoss. Sie tötete den Schulleiter und den Hausmeister. Ein Polizist und acht Schüler wurden verletzt. “I don’t like Mondays. This livens up the day”, sagte sie anschliessend zu einem Journalisten und bei der Polizei.

Was the day wohl heute upliven mag?

Bei mir daheim ist die Ellis Mano Band gerade dabei, den Boden für ein paar wenn auch nicht gerade unvergessliche, so doch bestimmt aushaltbare Stunden zu legen. Im Moment, in dem ich das schreibe, läuft (nein: dröhnt ziemlich hochtourig) in meinem Rücken „Here and now“, das Titelstück ihres gleichnamigen ersten Albums, das ich hiermit allen Bluesrock-Fans aufs Allerwärmste ans Herz lege.

Aus dem Aargau nach Burgdorf: Better goesn’t it anymore.

Die Truppe hat ihre Wurzeln im Aargau und spielte einst (lies: Ende Februar) vor einem deutlich über fünfköpfigen und restlos begeisterten Publikum im Maison Pierre zu Burgdorf, und wer von dem Quartett trotz dieser beiden Topreferenzen nicht vollends überzeugt sein sollte, kann ja mal einen Blick auf seine Seite werfen oder chly auf youtube schnöiggen, und falls er oder sie dann immer noch findet, „jääää, aber de glych…“, ist ihm oder ihr nicht zu helfen.

Bald kräht irgendwo ein Hahn fünfmal. Dann beginnen für mich die strukturiertesten zwei Stunden des Tages, das heisst: „Veröffentlichen“ klicken und ab unter die Dusche. Von einer dezenten Wolke aus Axe Ice Chill (Eigenwerbung: „Stell Dir mal vor, ein eiskalter Wintersturm würde mit einem gefrorenem Zitrus-Schneeball zusammen-stossen“) umwabert, bereite ich mir ein Birchermüesli zu, wobei ich mir für die Auswahl des Joghurts viel Zeit lasse. Heidelbeer oder Mango: beim Fällen solch wichtiger Entscheidungen heisst es, nichts zu überstürzen.

Dazu verputze ich, so langsam wie möglich kauend, das siebzehntletzte Osterei aus meinem Kühlschrank. Alles Weitere ist Routine: Begehung des Kleiderzimmers, Tenü auswählen, Krawatte binden, Turnschuhe polieren. Wenig später steigt hinter dem Schloss die Sonne in den kondensstreifenfreien Himmel.

Ich werde mir das andächtig anschauen und kurz danach die Stille geniessen, die sich von meinem Nachbarhaus aus wie schon am Freitag einer kuscheligen Decke gleich über das Quartier legen dürfte.

Die neue Virklichkeit (33)

Weisser als die Felle von Heiligen Kühen sind nur die Röcke und Hemden an der Burgdorfer Solätte. Ob sie Ende Juni stattfindet, kommt morgen aus. (Bild: Simon Steinberger, pixabay)

Für Heilige Kühe ist der Corona-Frühling 2020 dasselbe wie jeder Herbst für das Wild: die time to say good-bye (wie Sarah Brightman und Andrea Boccelli sangen) oder sogar to say good-bye to it all (wie es Chris de Burgh formulierte), oder, um es mit den Doors auf den Punkt zu bringen: The End.

Sie werden dieser Tage am Laufmeter geschlachtet und unter erheblichem Wehklagen oder gänzlich unbeweint ins Grab der Geschichte gekippt.

Budget-Gemeindeversammlungen: Mobilisieren viel zu viele Interessierte, und überhaupt ist der Voranschlag von heute seit Corona das Altpapier von morgen.

Eingeschriebene Briefe: Hatten an jenem Tag ausgedient, an dem der erste Pöstler auf die Idee kam, er könne die Zustellung auch selber quittieren, statt beim Maschinelihinhalten vor der Haustüre sein Leben zu riskieren.

Abschlussprüfungen: Seit der Erfindung von Google ohnehin etwas überflüssig.

Feierabendapéros im Kollegenkreis: Wo denn? Und mit wem, wenn auch die Bürogspändli höchstens noch kurzarbeiten?

Jahreskonzert der Musikgesellschaft: Niemand investiert in der Pause noch 100 Franken in Lösli, um nach der neunten Zugabe mit einer Aldi-Speckseite unter dem Arm nach Hause wanken zu können. Kann also auch weg.

Die bald 300-jährige Solätte als heiligste aller Burgdorfer Kühe steht morgen im Burgdorfer Gemeinderatsszimmer, wo sie der Stadtregierung, mit den Hufen auf dem Parkettboden scharrend und hin und wieder eine Dekopflanze aus einem Topf rupfend, glubschäugig beim Diskutieren darüber zuguckt, ob sie am 29. Juni raus darf oder nach dem Motto „Stay im Stall – rette Leben“ drinnen bleiben muss.

Für Auswärtige: Die Solätte ist sozäge die Essenz von Burgdorf, jedenfalls für die Burgdorferinnen und Burgdorfer. Zugezogene vermögen darin wenig mehr als ein Gelage in Weiss zu erkennen, aber wer das laut schreibt, wird subito ohne Znacht aus der Stadt gejagt, und deshalb seis auch an dieser Stelle mit dem gebotenen Nachdruck vermerkt:

Etwas Schöneres als die Solätte hat die Welt nicht zu bieten, ausser vielleicht in diesem Jahr und möglicherweise auch im nächsten und so weiter, aber wer kann das heute schon sagen (und wenn es doch jemand sagen könnte: Wer wäre Manns oder Fraus genug, sich mit einem Megafon in der Hand auf die Schlossmauer zu stellen und den auf irgendeine gute Nachricht plangenden Menschen in ihren nach über vier Lockdownwochen übel heruntergewohnten Behausungen nach einem längeren „One, two…, one, two…“ zuzurufen: „HALLO!!! ACHTUNG!!! DIE SOLÄTTE IST ABGESCHAFFT! DAS IST KEINE ÜBUNG! DIE SOLÄTTE IST ABGESCHAFFT! ES BESTEHT GRUND ZUR PANIK, ABER BLEIBEN SIE RUHIG! SCHALTEN SIE DAS RADIO EIN UND WARTEN SIE AUF WEITERE ANWEISUNGEN! ICH WIEDERHOLE: DIE SOLÄTTE…)?

Die Solätte findet immer am letzten Junimontag statt und lockt jeweils auch zig Menschen aus näher (dem Tessin und dem Waadtland zum Beispiel) und ferner (Italien, Frankreich, USA etc. pp.) auf die Schützenmatte und in die Beizen der Oberstadt.

Für nicht wenige Gastronominnen und Gastronomen ist sie ein elementar wichtiges wirtschaftliches Standbein, und etliche Eltern hören von ihren Kindern an 365 von 365 Tagen nach dem Wecken als Erstes: „Isch hütt äntli Solätte?!?“

Man ahnt: Die Verantwortlichen stehen vor einem heiklen Entscheid. Sagen sie die Sause ab, berauben sie Heerscharen von Eingeborenen ihres liebsten Rituals, legen sie eine üppigst sprudelnde Einnahmequelle trocken und verunmöglichen sie unzähligen Exil-Burgdorferinnen und -Burgdorfern, früheren Weggefährtinnen und -gefährten immer und immer wieder die Frage aller Fragen zu stellen: „Weisch no?“

Geben sie für die Veranstaltung, an der Tausende von jungen und alten Leuten dicht an dicht vom Morgen bis tief in die Nacht hinein miteinander reden, knutschen und husten werden, grünes Licht, riskieren sie, dass Burgdorf wenig später europaweit und auf Ewigkeiten hinaus als Virenschleuder von mindestens Ischglformat gilt.

Einen Weg aus diesem Dilemma weist sicher der gesunde Menschenverstand, und zumindest in Ausnahmesituationen brauchen sich die Begriffe „Verstand“ und „Politik“ ja nicht grundsätzlich zu widersprechen.

Nachtrag 21. April 2020: Der Gemeinderat hat die Solätte 2020 abgesagt.

Die neue Virklichkeit (32)

Dank Corona braucht niemand mehr vorzugeben, es gehe ihm oder ihr blendend, weil alles andere Schwäche signalisieren würde.

Samstag, 18. April 2020

Liebes Tagebuch

Über einen Monat ist es nun her, dass der Bundesrat wegen Corona die landesweite Notlage ausrief und ich begann, dir unter den Siegel der Verschwiegenheit anzuver-trauen, was dieser Hausarrest mit mir und Menschen in meinem Umfeld so macht.

Seither ist Vieles passiert, was wir bis dahin für undenkbar hielten. Zum Beispiel, dass „die Medien“ sich irgendwann wieder für etwas anderes interessieren könnten als für Greta Thunberg und ihren Klimawandel.

Sie konnten – und wie: Für den vergangenen Monat verzeichnet die Schweizerische Mediendatenbank unter dem Stichwort „Corona“ gut 62 000 Treffer. Der Klimawandel wurde in derselben Zeitspanne 950 Mal erwähnt. Seine prominenteste Bekämpferin kam in vier Wochen auf 315 Nennungen.

Weiter – oder vor allem – durften wir vom ersten Tag des Lockdowns an feststellen, dass unsere Gesellschaft doch nicht aus lauter Egoistinnen und Egoisten besteht. In der Schweiz und besonders im Emmental und ganz speziell natürlich in Burgdorf wurden innert kürzester Zeit Nachbarschaftshilfsangebote geschaffen, die bis heute gewährleisten, dass es den Angehörigen der Risikogruppen auch dann an nichts mangelt, wenn ihr Bewegungsradius nur noch wenige Quadratmeter umfasst.

Wir entdeckten, dass Nähe auch mit Abstand geschaffen werden kann und dass das Wohl und Wehe des Abendlandes primär von dessen Toilettenpapierreserven abhängt. Wir schätzen die Süssigkeit des Nichtstuns und geniessen die grossen Freuden im Kleinen, wenn wir mit Freunden einen Spaziergang machen oder uns auf ein Stehkafi vor ihrem Haus treffen.

Auf einmal interessieren wir uns dafür, wie es Leuten geht, von denen wir bis Mitte März kaum mehr wussten, als dass sie existieren (wie der Bartli von gegenüber heisst, der immer dann den Kopf aus dem Fenster streckt, wenn ich auf dem Balkon meinen Nikotinhaushalt in Ordnung bringe, ist mir allerdings immer noch unklar, aber er könnte ja auch einmal etwas sagen statt immer nur freundlich zu mir hinüberzuwinken).

Und: Wir sind im Umgang miteinander ehrlicher geworden. Dank Corona braucht niemand mehr vorzugeben, es gehe ihm oder ihr blendend, weil alles andere Schwäche signalisieren würde. Ob körperlich, seelisch, sozial, wirtschaftlich oder kulturell: irgendwo schwächelt jeder und jede.

Hier rutscht eine Firma täglich näher in Richtung Abgrund, dort zerbröseln Beziehungen nach Wochen ununterbrochenen Nebeneinanders auf Nimmerwieder-
kitten. Da sind junge Leute, die ihre schwerkranken Mütter nicht mehr im Spital besuchen dürfen, und dort Grossväter, die in ihren Altersheimzimmern Fotoalben durchblättern müssen, wenn sie ihre Liebsten sehen wollen.

Nicht wenige Eltern dürften inzwischen mehr als nur eine verschwommene Ahnung davon haben, was die Lehrerinnen und Lehrer für ihre Kinder leisten. Auch der ignoranteste Ehemann begreift in seinem neueingerichteten Homeoffice langsam, dass das Dasein einer Hausfrau mehr umfasst als netflixend ein paar Hemden zu bügeln und am Abend eine Tiefkühllasagne in die Mikrowelle zu schieben.

Gut zu wissen: Den Titel „Beste Hausfrau“ gewann im Jahr 1967 eine gewisse Milena von Below. Sie lebte damals in Burgdorf, wie mir eine Leserin nach der Lektüre dieses Beitrags berichtete. Mit Stefan von Below, dem Sohn der Siegerin, verbrachte ich als Journalist viele, viele Stunden in Gerichtssälen. Die Welt ist manchmal schon klein.

Wir merkten, dass es zig Menschen gibt, die auch dann bereit sind, für uns zu arbeiten, wenn sie sich damit einer grossen Gefahr aussetzen. Die garantieren, dass unser Abfall weiterhin regelmässig entsorgt wird, dass wir ständig über Strom und Warmwasser verfügen, dass es auf den Baustellen vorwärts geht, als ob nichts wäre, und dass wir auch in dieser Ausnahmesituation unter 30 verschiedenen Naturejoghurts auswählen dürfen.

Wir applaudierten den Ärztinnen und Ärzten und den Pflegerinnen und Pflegern in den Spitälern und Heimen, erkannten, dass auf die Angehörigen der Armee und des Zivil-schutzes Verlass ist und sind uns weitgehend einig darüber, dass wir – ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich das je vor allen Leuten sagen würde – einen Bundesrat haben, der mit seinen Chefbeamten und deren Subalternen eine Entschlossen- und Gelassenheit an den Tag legt, die bis in die hintersten Winkel des Landes ausstrahlt.

Wir lernten, wie vernachlässigbar vermeintlich Unverschiebbares sein kann, dass sich Ferien und Grossveranstaltungen absagen lassen, ohne, dass deswegen jemand stirbt – ganz im Gegenteil – , und dass uns kein Zacken aus der Krone fällt, wenn in unseren Agenden einmal für ein paar Wochen (oder Monate; wer weiss?) so gut wie nichts eingetragen ist.

In mancherlei Hinsicht ähnelt das Leben mit dieser Pandemie dem Schweben über Reinhard Meys Wolken: Was uns eben noch gross und wichtig erschien, ist jetzt nichtig und klein.

So betrachtet, wärs vielleicht nicht schlecht, wenn wir versuchen würden, uns das eine oder andere, was Corona mit uns anstellte (und vermutlich noch sehr lange anstellen wird), für die wann auch immer anbrechende Zeit danach zu bewahren.

Ihr blicken einige von uns mit leisem Unbehagen entgegen und andere mit an Panik grenzender Angst. So oder so berührt das Virus jeden und jede im Innersten, unabhängig von der beruflichen Position, dem gesellschaftlichen Status, der Dicke des finanziellen Polsters und der Anzahl der Freundinnen und Freunde auf Facebook.

Das unterscheidet Covid-19 von anderen Naturkatastrophen, unter denen meist jene am meisten zu leiden hatten, die ohnehin schon in einem Masse litten, das wir Wohlstands-verwahrloste uns weder vorstellen konnten noch wollten, wenn wir stocksauer an unserem Latte Macchiato nippten, weil der Kellner vergessen hatte, Pistazienbrösmeli darüberzustreuen.

Die neue Virklichkeit (31)

Keine Spur von Gstrüpp: Simonetta Sommaruga hatte die Haare an der gestrigen Corona-Medienkonferenz des Bundesrates auffällig schön.

Erwartet hatte ich ein totalzerzaustes Geschöpf, das nur noch entfernt an ein menschliches Wesen erinnert. Zu sehen bekam ich gestern Nachmittag eine Frau, die sich wie aus dem Truckli vor die Nation setzte, um den bundesrätlichen Fahrplan für die Lockdownlockerung zu präsentieren.

Das heisst: Simonetta Sommaruga (59) muss in den vier Wochen, in denen landesweit kein «Haargenau» und kein «Hair-einspaziert» und kein «Haarometer» und kein „Hairlich“ und kein „Hairzig“ und kein „Haarsträubend“ und keine „Haarchitekten“ und keine „Vier Haareszeiten“ offen war, die Möglichkeit gehabt haben, sich von einer Jessica oder so (18) die Frisur richten zu lassen.

Polit-Aficojo -Avocad -Afischenatos erstaunte das nur bedingt: Für die da oben gelten auch und ganz besonders in Notlagen komplett andere Spielregeln als für uns da unten (wenn überhaupt!), und wenn Alain Berset in seinem Garten mit einem nigelnagel-neuen Schüfeli schon am 25. April fabrikfrische Sonnenblumensamen eines Freiburger Floristen eintopft, statt, wie alle anderen, erst zwei Tage später, wäre ich der Letzte, der sich darüber wundern würde, denn mit uns kann mans ja machen, wir zahlen schliesslich auch pünktlich unsere Steuern für nichts und wieder nichts und stayen lifes savend ganze Frühlinge lang @ home, ohne kritische Fragen nach dem Wieso und Warum zu stellen oder auch nur in den Spiegel zu schauen, um uns in unserem von Angela Merkel ferngesteuerten Dasein wieder einmal unserer eigenen Identität bewusst zu werden, aber ein Blick in den Spiegel brächte ja sowieso nichts, denn alles, was wir darin sehen würden, wäre ein totalzerzaustes Geschöpf, das nur noch entfernt an ein menschliches Wesen erinnert, AUSSER NATÜRLICH, MAN IST BUNDES-PRÄSIDENTIN!!!

Eben präsidierte Hannes Zaugg-Graf noch den Grossen Rat des Kantons Bern, aber selbst das genügte nicht für eine Privatschur, was, von unten betrachtet, irgendwie tröstlich ist.

Damit verlassen wir die sachliche Ebene und schauen uns noch kurz auf der persönlichen um.

Tess‘ Hüeti Claudia Nolte geht es mit ihrer kaputten Achillessehne nach wie vor eher unprächtig (sie ist aber jederzeit für ein Openair-Kafi vor ihrem Haus zu haben und bringt das Gebräu sogar eigenhändig in einem Chörbli hinunter, und solange das so weitergeht, besteht kein Anlass zur Sorge):

Bei Tess selber ist alles im grünen, beziehungsweise silbergrauen Bereich (gut: Wenn man sie fragen würde, bekäme man zu hören, sie sei rund um die Uhr am Verhungern, aber das war schon vor Corona so und wird auch nach Corona so bleiben). Diese Woche kam sie mich besuchen. Sie empfahl mir dabei dezent, über den Kauf eines eigenen Sofas nachzudenken, damit sie ihres nicht immer mit mir teilen muss:

Giusy Rovetto, die in der Burgdorfer Schmiedengasse den gluschtigschten Laden für sizilianische Spezialitäten nördlich von Palermo betreibt, hat beste Aussichten auf den Titel „Miss Coronaltstadt 2020“. Ob die feierliche Preisverleihung im angemessen grossen Rahmen je wird stattfinden können, ist, Stand jetzt, eine andere Frage.

Mein „Jööö“ des Tages ging an eine Frau aus Lyssach, deren Name hier nichts zur Sache tut. Sie berichtete mir, ihr Bub habe sich beim Trampolinhüpfen hinter dem Haus einen Arm gebrochen. Das habe ihm ziemlich wehgetan. Viel mehr schmerze ihn allerdings, den imposanten Gips nicht seinen Gspändli in der Schule vorzeigen zu können.

Zum Thema „Trampolin“ hat Tony Carey 1990 übrigens ein wunderschönes Lied geschrieben:

„Some people got much too much
Some people got the midas touch now
Some people are waiting for the train
Some people get blood on their hands
Some people see disneyland now
Some people are candles in the rain
Like a trampoline
Goes up goes down
Out of luck or heaven bound
But we’ve got something and we’ll never touch the ground
On the trampoline
Just me and you
Just a little love will see us through
Hang on to me baby, I’ll be here with you
On the trampoline.“

Wenn das keine Liebeserklärung ist, weiss ich auch nicht.

Im Übrigen möchte ich wieder einmal darauf hinweisen, dass wir in Burgdorf das schönste Schloss weit und breit haben.