Die neue Virklichkeit (31)

Vegetarier können einfach den schönen Teller angucken: Aus dem Burgdorfer „Stadthaus“ gibts jetzt beilagenfreie Cordon bleus für den Verzehr daheim. Auf den Küchenchef kommt schon bald etwas zu.

Wenn ich das, was ich mir während des Lockdowns zubereite, in einem Restaurant vorgesetzt erhielte und das Frölein beim Abräumen fragen würde, obs rächt xi isch, käme ich über ein artiges Nicken wohl nicht hinaus: Birchermüesli an Heidelbeer-Joghurt, Birchermüesli an Mango-Joghurt, Birchermüesli an Apfel-Joghurt, Birchermüesli an Blutorangen-Joghurt, Spaghetti Bolo, Hörni Bolo, dicke Nudeln Bolo, dünne Nudeln Bolo, Fusilli Bolo, Farfalle Bolo, Wienerli mit Härdöpfusalat, Härdöpfusalat mit Wienerli, Burger mit Ei, Burger ohne Ei, ab und zu ein Dürüm und alle Coronawellen einmal eine Pizza: that’s it, plusminus.

Aber jetzt, zu meinem einmonatigen Jubiläum als Lebensretter, wollte ich mir wieder einmal etwas ganz Feines gönnen. Das Hotel Stadthaus bietet seit Kurzem komplette Menüs für den Hausgebrauch an. Zur Auswahl stehen ein Swissprim Cordon bleu vom Kalb (mit ohne Gemüse!) oder ein individuell scharfgemachtes Rindstatar plus eine Suppe und ein Dessert für alles in allem 55 Franken.

Küchenchef Christian Bolliger bereitet die Essen in der Stadthaus-Küche zu und verpackt sie nach den aktuellsten Hygienevorschriften. Dann kann man sie bei ihm abholen. Für 10 Franken liefert er den Schmaus sogar nach Hause. Es versteht sich von alleine, dass ich dieses zusätzliche Nötli investiere; immerhin wohne ich im 4. Stock.

Ich fragte drei kulinarikaffine Freunde, ob wir uns zu diesem Festmahl bei mir treffen wollen, aber oha: der eine sagte ab, weil er in seiner Firma in Arbeit versinkt (doch, doch: das gibts noch), die beiden anderen schrieben, sie hätten seit Wochen null (in Zahlen: 0) Einkommen und müssten deshalb bedauernd verzichten.

Um doch noch zu meinem Cordon bleu zu kommen (das Drumerherum brauche ich eigentlich nicht zwingend, aber wenn Chrigu schon dabei ist, zu mir hochzusteigen, kommts auf die paar Kilo extra sicher auch nicht mehr an), habe ich also mehrere Optionen:

a) Ich bestelle es nur für mich und verputze es, im immer schwächer flackernden Schein des letzten noch funktionierenden Gaslämpchens, mutterseelenalleine in meiner totenstillen Wohnung,

b) Ich warte, bis der eine Freund nächste Woche vielleicht chly weniger Büez hat und ordere das Menü dann mit ihm.

c) Ich warte, bis der eine Freund nächste Woche vielleicht chly weniger Büez hat, ordere das Menü dann mit ihm und lade die anderen beiden einfach mit ein.

Eigentlich habe ich mich bereits für eine der drei Varianten entschieden. Ich verrate aber noch nicht, für welche, um gewissen Mitessern die Überraschung nicht zu verhageln.

A propos „Freunde“: Auch der Waggu, den ich mit zwei weiteren lieben Menschen aus meinem Umfeld diese Woche unternahm, hielt wiederum sehr viel mehr, als er versprochen hatte. Diese Bluescht! Diese Farben! Diese Düfte!

Wir waren nun schon zum dritten Mal hintereinander miteinander unterwegs. Weil wir – ausser in der Startphase; da legen wir Wert auf Abwechslung – immer dieselbe Route abbummeln, dürfen wir jedes Mal aufs Neue entzückt beobachten, wie sich die Natur an der Emme unten für den Sommer herausputzt.

Wenn wir im Juli oder August immer noch waggeln (was ich schwer hoffe), können wir bei jedem Strauch und jedem Baum, an dem wir vorbeigehen, sagen, dass wir ihn fast von Anfang an bei seinem Wiederwerden begleitet haben, und das ist, wie ich finde, ein schöner Gedanke (wenn auch einer, auf den man vermutlich nur in nationalen Notlagen kommt, weil sonst alles andere wichtiger ist zu sein scheint).

Nachdem ich hier jede Woche einmal von „Waggu“ schreibe, ist es vielleicht an der Zeit, sich einmal vertieft mit diesem schönen, aber leider vom Aussterben bedrohten Wort zu befassen.

Ein Blick in das Wörterbuch Berndeutsch-Deutsch führt auf eine heisse Spur…

…die bei der Konsultation von Perrypedia jedoch umgehend schockgefriert:

Auf Facebook entdeckte ich eine Frau einen Mann jemanden mit Namen Waggu. Wenn ich sie ihn mir das Bild so anschaue, kommt mir alles Mögliche in den Sinn, aber nichts, was auch nur annährend so tiefenentspannend wirken könnte wie unsere original echten Corona-Waggu.

Die neue Virklichkeit (30)

Wenn die Tagschicht der Wissenschaft Feierabend hat: Sagt sie der Ablösung, was vorher lief? Wenn nein: Wieso können diesem Mobbing nicht ausgediente Schulpsychologen ein Ende setzen?

Über 2000 Jahre lang interessierte sich kein Mensch für sie, oder ämu fast keiner. Aber jetzt, wos ans Läbige geht, prägt sie unseren Alltag bis in die hintersten Winkel. Was auch immer sie sagt, gilt als erwiesen und damit als verbindlich. Der Bundesrat fällt keinen Entscheid, ohne vorher sie zu konsultieren, und einzelne ihrer Exponentinnen und Exponenten avancierten in den letzten Monaten zu Stars, nachdem sie früher immer diejenigen waren, welche im Turnen widerwillig als Letzte in die Fussballmannschaften gewählt wurden: die Wissenschaft.

Ihre Stimme hat für Millionen von Leuten mehr Bedeutung als jene aller Politikerinnen und Politiker und Wirtschaftsverantwortlichen zusammen. Umso wichtiger wäre, dass sie sich klipp und klar ausdrücken würde, aber das tut sie nur selten:

Am Morgen schreibt ein Onlineportal, die Corona-Ansteckungskurve weise gemäss „der Wissenschaft“ nach unten. Am Mittag heisst es im Radio, es gebe bei den Ansteckungen laut „der Wissenschaft“ eine alarmierende Dunkelziffer, und acht Stunden später vermeldet Tagesschau, „die Wissenschaft“ sehe am Ende des Tunnels ein Licht (seltsamerweise erwähnt „die Wissenschaft“ in diesem Zusammenhang nie, dass der zunehmend hellere Schein auch von einer gigantischen Lokomotive stammen könnte, die führerlos auf die vor dem Loch auf bessere Zeiten hoffende Bevölkerung zurast, aber dafür hat sie wohl ihre Gründe).

Ist das nur eine Wissenschaft, die rund um die Uhr daran arbeitet, Covid-19 den Garaus zu machen, und in der Hektik manchmal schon um 14 Uhr nicht mehr weiss, was sie um 11 Uhr sagte? Oder sind das in Schichten chrampfende Wissenschaften, die am Feierabend einfach ihre weissen Kittel an die Haken hängen und aus den Labors verschwinden, ohne ihre Ablösungen auf den aktuellen Stand der Dinge zu bringen?

Mobben sich die Wissenschaften auf diese Weise gegenseitig und wenn ja, warum und überhaupt: Wieso unternimmt niemand etwas dagegen? Heerscharen von staatlich alimentierten Psychologen, die am Rande der Pausenplätze jahrelang kettenkiffend darauf warteten, dass Hansli Fritzli den Döner entreisst, um Ersteren zK. der lokalen KESB noch sur place forensisch zu begutachten und Letzterem traumatisierungs-präventiv einen halben Liter Bachblütenessenz in den Unterarm zu jagen, würden sich noch so über neue Betätigungsfelder freuen, und wenn das irgendwann dazu führt, dass „die Öffentlichkeit“ auch nur eine vage Ahnung davon hat, für wen oder was diese „Wissenschaft“ eigentlich steht, ist am Ende allen gedient; nicht zuletzt „der Wissenschaft“ selber – und ganz bestimmt auch „den Medien“.

„Die Medien“ entscheiden ja, was „die Öffentlichkeit“ in Sachen Corona „weiss“ und was nicht (das waren jetzt abnormal viele Anführungszeichen auf einmal, aber was ist „in Zeiten wie diesen“ schon „normal“?).

In manchen Redaktionen, die in den vergangenen Jahren aus Spargründen bis knapp an die Grenze der Blutleere ausgedünnt wurden, halten jedoch nur nur noch einige soeben der Pubertät entwachsene Billigstkräfte die Stellung. Für sie ist „Googlen“ das einzige Synonym für „Recherche“ und das Copypasten von kompletten Wikipedia-Beiträgen nichts Verwerfliches. Sie wähnten sich an ihrem Karrierehöhepunkt, als sie am letzten Gurtenfestival backstage drei Minuten lang mit dem Schwager der Cousine einer längst wieder der Vergessenheit anheimgefallenen Hip-Hopperin aus Katalonien über deren erste CD („Ihr bisher bestes Album!“) plaudern durften.

An ihnen liegt es nun, die Nation allgemeinverständlich über hochkomplexe medizinische, wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge aufzuklären, die Informationen und Anweisungen der Landesregierung unters Volk zu bringen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, unkritisch alles nach unten durchzureichen, was ihnen von oben zugeworfen wird und daneben mit möglichst knackigen – aber zumindest nicht jedesmal total irreführenden – Schlagzeilen die Klickzahlen in der Höhe zu halten.

Das überfordert auf Dauer den talentiertesten Praktikanten, weshalb zur medialen Bewältigung der nächsten Coronawelle ein neues Modell angedacht werden könnte: Ein noch zu evaluierendes Gremium ernennt pro Sprachregion eine mit allen Wassern gewaschene Journalistin (oder einen mit allen Wassern gewaschenen Journalisten, um tschendermässig auch in der aktuellen Notlage in der Spur zu bleiben), die/der sich dann einmal pro Tag mit dem immer gleichen Mitglied des Bundesrats und dem immer gleichen Vertreter der Wissenschaft über Exit-Strategien, Fallzahlen und Kurvenverläufe unterhält und mit ihren/seinen Erkenntnissen sämtliche Medien in ihrem/seinem Einzugsgebiet bedient.

Dann wüssten stets alle gleich viel und kein(e) Medienschaffende(r) müsste je wieder morgens um 7 einen pensionierten Handchirurgen mit virenspezifischen Fragen behelligen, weil der 18. der für heute geplanten 45 Corona-Beiträge längst online sein müsste, die eigentlichen Experten aber schon tutti quanti besetzt sind.

Falls der Journalist oder die Journalistin nach ein paar Monaten leicht ermattet einen Freitag einziehen möchte, dürfte er oder sie das selbstverständlich tun. Dann gäbe es halt einmal 24 Stunden lang nichts über Corona zu lesen und hören und sehen, aber das wäre inzwischen wohl für uns alle relativ locker verkraftbar.

Die neue Virklichkeit (29)

Die Alternative zum Fernsehen: Nachschau halten, obs da draussen auch wirklich läuft wie verordnet.

Wenn ich wissen will, was ausserhalb meiner vier Wände passiert, riskiere ich hin und wieder einen Blick auf die Facebook-Seite „Du bisch vo Burgdorf wed…“.

„Riskieren“ schreibe ich, weil es einem auf diesem Portal ergehen kann wie auf der Autobahn beim Blick aus dem Fenster: Schönes und Grauenerregendes wechseln sich ständig ab.

Je nachdem, wer sich darauf tummelt, finde ich Kurzbeiträge aus dem kulturellen Leben…

…kreative Anregungen…

…oder Sachen zum Lachen:

Gelehgentlich kann ich so gar ettwas leeren:

Wenn es der Seite schlecht läuft, mutiert sie allerdings zum Pranger…

…zum Treffpunkt der Selbstgerechten…

…und zum Kummerkasten für Leute, die das wirklich Wesentliche auch vor dem Hintergrund von über hunderttausend Coronatoten nicht aus den Augen verlieren:

Seit dem Lockdown Mitte März hat sich eine weitere Gruppe dazugesellt: jene der Hobbypolizisten, Privatdetektivinnen und Freizeitschnüfflenden. Je länger der kollektive Hausarrest dauert, desto motivierter schwärmen sie aus, um Nachschau zu halten, obs da draussen auch wirklich vonstatten geht wie verordnet.

Mal geraten die Bonsai-Stasiagenten in unüberschaubare Menschenansammlungen…

…mal enthüllen sie Umweltskandale…

…mal denunzieren sie vom Aussterben bedrohte Lebewesen…

…oder jammern über Jammernde.

Privilegiertere Spione brauchen sich nicht einmal in die freie Wildbahn zu bemühen, um angeblichen Frevlerinnen und Frevlern nachzustellen. Sie gehen ihrer Arbeit trendig von zuhause aus nach:

Weil ich gerade ein Eggeli Zeit hatte, schaute ich mich auf anderen Seiten nach ähnlichen Inhalten um. Lange brauchte ich nicht durch seriöse Onlineportale und obskure Blogs zu surfen: Das Anschwärzen von Mitmenschen scheint für aller Gattig Lüt zu einer echten Alternative zum Fernsehen geworden zu sein.

Beim Sichten der Beiträge fiel mir ein, was mir zwei oder drei Tage, nachdem der Bundesrat die Notlage ausgerufen hatte, vor dem nahen Tankstellenshop passiert war. Ich war gerade dabei, mich mit einem Säckli voller Cola Zero-Büchsen aufs Bike zu schwingen, als eine Frau, die ihren Wagen auftankte, mich tadelnd fragte, was ich „hie usse“ zu suchen hätte.

Zu meiner eigenen Überraschung antwortete ich ihr höflich, ich sei Flüssigproviant für die nächsten Tage posten gegangen und mache mich jetzt huschhusch auf den Heimweg.

Dass der eine oder die andere chly hysterisch auf die neue Situation reagieren würde, war zu erwarten. Das würde sich, dachte ich damals, im Laufe der nächsten Tage von alleine normalisieren. Zuhause angekommen, hatte ich die Sache so gut wie vergessen.

Aber jetzt, wo ich wieder darüber nachdenke, stelle ich mir vor, wie die Frau jeden Tag an einem Waldrand oder vor einen Grossverteiler fährt und dann mit dem durchgeladenen Smartphone im Anschlag Leuten abpasst, die nur kurz frische Luft schnappen oder einkaufen wollen, während ihr Mann mit dem Hund stundenlang der Emme entlangspaziert.

Die neue Virklichkeit (28)

Bevors Leserinnenbriefe hagelt: Ich wollte den Beitrag nicht so illustrieren. Aber dieses Bild ist neben 4899 anderen Fotos leider alles, was das Portal Pixabay unter dem Stichwort „Schlafen“ hergibt.

Vier Stockwerke unter mir grölte jemand ununterbrochen Unzitierbares. Einschlaf-erschwerend kam hinzu, dass sich Denkmaschinen ab einer gewissen Übergrösse – im Gegensatz etwa zur Schweiz – nicht von einer Stunde auf die nächste herunterfahren-lassen. Deshalb lag ich von 21.40 bis 22.50 Uhr wach, aber das störte mich nur peripher. „Wenn die Sonne wieder hinter dem Schloss vüregüxlet, ist Ostermontag, und am Ostermontag muss ich ja nicht arbeiten“, dachte ich, und stand auf.

In dieser Nacht tat ich, was ich schon lange hatte tun wollen: Filme aus meiner Swisscombox wegschauen. Darin hatte sich in den letzten Wochen eine ganze Menge angesammelt: Krimis, Dokumentationen und viele, viele Einzelteile von Serien harrten des Zuschauers, der nicht kam, weil er seine freie Zeit einfach nicht schon tagsüber mit Fernsehen totschlagen mag. Dann schon lieber staubsaugen, bis durch den Holzboden die unter mir liegende Wohnung sichtbar wird.

„Spiel mir das Lied vom Tod“, zwei Folgen „Criminal Minds“, Zusammenschnitte von Konzerten von Bruce Springsteen und Beth Hart sowie ein Blick hinter amerikanische Gefängnismauern: Ich liess nichts aus, oder ämu fast nichts. Die Knastdoku mit Johnny Cash war allerdings ziemlich happige Kost, weshalb ich beschloss, mir zum Zmorge etwas Leichtes zu gönnen.

Sechs Stunden lang waren Covid-19 und der Hausarrest und alles weit weggewesen. Dann startete ich eine Folge von Alf. Es ging darum, dass der putzige Ausserirdische an Weihnachten aus Versehen in ein Spital geraten war, wo er mit einer unmittelbar vor der Geburt stehenden Frau im Lift steckenblieb.

Selbstverständlich half Alf der Dame, ihr Baby zur Welt zu bringen. Doch bevor er das tat, zog er sich um. In dem Wägeli, in dem er sich zuvor versteckt gehabt hatte, kramte er nach passendem Zubehör, und als er wieder auftauchte, holte mich die Fiktion von einer Sekunde auf die andere ins wahre Leben zurück:

102 Episoden wurden zwischen 1986 und 1990 von Alf gedreht, und 30 Jahre später bekomme ich in einer Zeit, in der Schütze vielleicht schon bald vor aller Munde sind, genau jene zu sehen, in welcher er einen Mundschutz trägt.

Is this the real life or is it just fantasy?

So oder so: Es gibt no escape from reality; das sahen Queen und ihrem Gefolge auch die Muppets schon richtig:

Das mit dem Schlafen ist sowieso ein bisschen eine Sache geworden. Corona hat meine innere Uhr dermassen durcheinandergebracht, dass ich bezweifle, ob ich sie je wieder auf die Werkseinstellungen zurücksetzen kann.

Die Wach- und Ruhezeiten gehen so fliessend ineinander über, dass sie sich kaum noch voneinander unterscheiden. Am heiterhellen Tag überfallen mich Müdigkeitskrisen, in stockfinsterer Nacht könnte ich Bäume ausreissen.

Das geht nicht nur mir so: Wenn ich morgens um 2 mit einem Kafi in der einen und einer Zigi in der anderen Hand puurlimunter auf dem Balkon stehe, sehe ich in Wohnungen Licht brennen, in denen um diese Zeit vor dem Lockdown bestimmt nie Licht brannte. Mit senilen Bettfluchten kann das kaum zu tun haben: so lange, wies hinter den Fenstern der Nachbarschaft hell ist, bislet kein Mensch.

Seltsam ist auch: Früher träumte ich meist, als ob ich in einem topmodernen 3D-Kino mit XXL-Leinwand und Dolby Supersurround sitzen würde. Diese tempi sind passati: Mein Kopfkino produziert mehrheitlich Filme, die an Farbintensität und Tiefenschäfte schwer zu wünschen übriglassen. Oft zeigt es sogar nur Schwarzweiss-Streifen.

Inhaltlich gibts weiterhin nichts zu meckern: Die Plots verhäbe, die Handlungsstränge sind halbwegs logisch miteinander verknüpft, das Stammpersonal spielt seine Parts so engagiert wie eh und je, und in 8 von 10 Fällen verkneift es sich die Regie dankenswerterweise, die Geschichte mit einem fiesen Cliffhanger enden zu lassen.

Ein wenig merkwürdig deucht mir, dass immer weniger Nebendarstellerinnen und -darsteller auftreten. Das hat möglicherweise damit zu tun, dass in meinem richtigen Leben momentan nicht mehr sooo viele Leute aktive Rollen spielen.

Weiter mangelt es den Produktionen zunehmend an nervenkitzelnden Elementen, aber wieso solls in den Träumen auch spannender zu- und hergehen als im wachkomatösen Alltag.

Die neue Virklichkeit (27)

Grosser Auftritt – k(l)eine Wirkung.

Nie – ich wiederhole: nie! – grinste mir das Schicksal hämischer ins Gesicht als diese Woche.

Auf der Rückseite unserer Lokalzeitung war wereliwer zu sehen?

Yup!

Und was passierte daraufhin, waseliwas?

Genau.

Ich habe keine Ahnung, wer das Selfie von mir in meinem Büro geschossen hat. Ich weiss auch nicht, wer das Bild an die Adresse redaktion@dregion.ch schickte in der grossen Hoffnung darauf, dass es abgedruckt würde, und zwar nicht einfach unten links auf Seite 8, weil jemand zuwenig gestorben war und der eigentlich für die Todeanzeige reservierte Platz last minute irgendwie gefüllt werden müsste, sondern unübersehbar, in der Mitte einer der meistbeachteten Seiten der ganzen Zeitung.

Wer auch immer das getan haben mag: Falls der flotte Typ aus der Schmiedengasse 1 auf diese raffinierte Weise dafür sorgen wollte, dass ich über Nacht aus den Niederungen der altstädtischen U- in die Sphären der regionalen F-Prominenz aufsteige, sei ihm ein paar Tage nach dem Erscheinen der „Region“ gesagt: all seine Bemühungen fruchteten nichts.

Kein Schwein rief mich an, niemand flehte um Autogrammkarten. Als sich mir die von Andy Warhol garantierte Chance auf meine 15 Minuten Berühmtheit bot, las längs niemand mehr Zeitung, weil darin sowieso nur Coronazeugs steht. Abgesehen davon bekommen ohnehin nur noch sehr wenige Leserinnen und Leser ihr Leibblatt nach Hause geliefert, da die meisten Verträgerinnen und Verträger als Risikogruppen-mitglieder richtiger-, aber in meinem Fall halt doch höchst bedauerlicherweise, auf das Austragen von Drucksachen verzichten.

Überhaupt, die Risikogruppen. Aber eigentlich brauche ich dazu gar nichts mehr sagen. Es wurde dazu ja schon von allen alles gesagt, wie zu allem anderen auch, denken wir nur an die Themen „Exit-Strategie“, „Abfederung“ oder „Hamsterkäufe“, und wenn wir schon dabei sind: folgende Begriffe mag ich, in alphabetischer Reihenfolge, ebenfalls nicht mehr hören:

Ausnahmezustand

Fallzahlen

Händewaschen

A propos „Fallzahlen“: Was ist eigentlich mit dem Tiger, der sich im Zoo von New York angeblich mit den Corona-Virus angesteckt hat?

Lebt er noch? Geht er weiterhin einkaufen, als ob nichts wäre, oder erledigen das inzwischen die Zebras von nebenan für ihn? Sind Schutzmasken für Raubkatzen sinnvoll oder nutzlos? Liegt er in einem Spital unter dem Sauerstoffzelt? Wurde er eingeschläfert? Gab er die Bazillen vor einem Ableben weiter und wenn ja, wem? Einem Wärter? Einem Artgenossen? Einem Wärter in einem Artgenossen?

Sprangen sie von ihm auf die Löwen und Gazellen und Elefanten und von dort auf die Bäume und Sträucher über? Ist da überhaupt noch jemand oder etwas, im New Yorker Zoo? Oder siehts dort inzwischen auch aus wie, zum Beispiel, auf der Brüder Schnell-Terrasse, wo in diesen Frühlingstagen normalerweise Dutzende von Burgdorferinnen und Burgdorfern heiteren Gemüts dem Pétanquespiel frönen, als ob die Mutter aller Städte nicht im Ämmitau, sondern in Südfrankreich liegen würde?

Brüder Schnell-Terrasse einst („einst“ im Sinne von „vor ein paar Wochen“).
Brüder Schnell-Terrasse jetzt.

Niemand weiss es, niemand hat nachgefragt, alles hängt in der Luft, aber gut: nicht nur im Zoo von New York, sondern auch in der Altstadt von Burgdorf und sonstwo.

Ostern 2020: Das ist die Feier der Tatenlosen im Tal der Ahnungslosen, wobei: ein bisschen Ahnung gibt es ja schon, zumindest, was die Frage betrifft, wies mit der Wirtschaft nach der Lockerung des kollektiven Hausarrests weitergeht: nicht zügig obsi nämlich, sondern mehr steil absi. So interpretiere ich jedenfalls die jüngsten Ausführungen von Eric Scheidegger vom Amt für Wirtschaft, aber deshalb braucht jetzt niemand zu erschrecken; wenn ich die Worte von Wirtschaftsfachleuten interpretiere, ist das von einer ähnlichen Verbindlichkeit, wie wenn ein Stromer auf Mallorca dem Finca-Besitzer aus Deutschland verspricht, er werde sich gleich morgen früh um die kaputte Aussenbeleuchtung kümmern.

„V-Rezession“, „L-Rezession“, „BIP-Rückgang“: Das sind Begriffe, mit denen ich sehr viel weniger anfangen kann als mit, sagen wir, mit „Rock’n’Roll“ oder „Haute Cuisine am eigenen Herd“, aber vermutlich ist das auch gar nicht so wichtig, denn wenn uns Corona eines gelehrt hat, dann nebst vielem anderem das: Die Prognose von heute Mittag ist die Zurückruderregatta von heute Abend.

Da lobe ich mir doch – einmal mehr – Daniel Koch, der an derselben Medienkonferenz schlicht und einfach konstatierte, „wir sind über den Berg hinaus, falls es der letzte Berg ist“. Das ist im Vergleich zu dem, was in den letzten Wochen zahllose Expertinnen und Experten zum Thema beizusteuern sich bemüssigt fühlten, eine an Präzision kaum zu toppende Aussage.

Was gibt es in Sachen Ostern noch zu vermelden? Wenn man lange genug darüber nachdenkt – was man in Ermangelung anderer Beschäftigungsmöglichkeiten ja ad Libido tun kann – kommt man zum Schluss: erschütternd nichts.

Ich gehe davon aus, dass in den christlich geprägten Coronakasernen heute alles plusminus so läuft, wie es unter den gegebenen Umständen halt laufen kann, das heisst: Papi guckt, in seinen täglich dichter werdenden Kokon aus Spinnweben gehüllt, auf dem Sofa fern, s Mami versteckt in den Zahngläsern und hinter der Gottfried Keller-Gesamtausgabe in der Ikea-Wohnwand Eier, Leo und Lea büffeln am Laptop Astrophysik (und zwar nicht für die Schule, sondern für sich selber!, wie der Lehrer bei seinen regelmässigen Videokonferenzen mit der Klasse nicht müde wird zu betonen).

Gegen Punkt 12 Uhr – also: genau dann, wenn der Hackbraten verzehrbereit wäre – ruft Tante Martha an, um sich nach dem Befinden der lieben Verwandten zu erkundigen, und sobald die Bratenscheiben, längst erkaltet, auf den Tellern liegen, klingelt das Telefon erneut, und alle wissen: das ist Onkel Max, und das dauert länger.