Springsteen, leicht verwirrt

Das Vorhaben meiner Schwägerin Judith Wernli war ziemlich ambitioniert: Sie wollte Bruce Springsteen dazu animieren, an seinem Konzert in Zürich „My Hometown“ zu singen. Dieses Lied hat „The Boss“ auf seiner aktuellen Welttournee nicht im Programm…aber de gliich (oder, natürlich, grad drum).

Auf allen möglichen Kanälen und with a little help from ihrer Arbeitgeberin SRF3 motivierte sie zig Konzertbesucherinnen und -besucher, Schilder zu malen, auf denen der Songtitel steht, und mit ins Letzigrundstadion zu bringen.

Nachdem er mit dem Konzert begonnen hatte, blickte Springsteen auf einmal auf einen Wald von „My Hometown“-Plakaten. Ungefähr in der Halbzeit seines Auftritts fragte er sich coram jubelndem publico, wieso hier soviele Schilder mit ‚My Hometown“ hochgehalten würden. Er sei deswegen, fügte er an, „leicht verwirrt“.

Aber dann konstatierte der Superstar, „das Volk hat gesprochen“. Und spielte mit seiner E Street-Band waseliwas?

Wieder auf den Beinen

Update für alle, die sich in den letzten Tagen und Wochen nach meinem Befinden erkundigten (tuusig Dank😘): Ich legte die Krücken nun weg, um die ersten Schritte zurück in die Normalität zu gehen. Das klappte so gut, dass ich mich ein paar Stunden später aufs Velo setzte, um mit Tess an der Leine – quasi als Stütze – ein Ausfährtli zu machen.

Kurz: Zwei Monate nach dem Oberschenkelhalsbruch bin ich schon wieder fast wie vorher auf den Beinen.

Schritt für Schritt in die Normalität

Gelegentlich kommt es mir vor, als ob ich mich schon vor Monaten in dieser Klinik einquartiert hätte. Tatsächlich sind seit der Reparatur meines Oberschenkelhalses aber erst drei Wochen vergangen.

Die Zeit spielt hier ein seltsames Spiel. Mal lässt sie die Stunden zu Minuten gerinnen, mal dehnt sie Minuten zu Stunden. Ob Montag oder Mittwoch ist, spielt in meiner Wahrnehmung – wie schon während der Corona-Lockdowns – keine Rolle mehr.

Die Tage laufen immer gleich ab: Nach dem Zmorge gehts ab in die Physiotherapie, dann in den Kraftraum, dann zurück in den Speisesaal zum Zmittag, dann wieder in die Physio, dann zurück an die Fitnessgeräte und schliesslich in die Kompressen-Abteilung, wo die Wunde mit eiskaltem Salz gepflegt wird.

Abends verziehe ich mich aufs Zimmer. Um plusminus 21 Uhr lösche ich das Licht, wobei: ich könnte es genausogut brennenlassen, denn mit dem Schlafen haperts. Sobald ich mich im Bett bewege, stichts oder klemmts oder rupfts in der oberen Hälfte des linken Beins. Aber henu: Das zeigt, dass die Muskeln und Sehnen arbeiten. Und genau das sollen sie ja so schnell wie möglich wieder tun.

Das Duschen, Anziehen und der Toilettenkram waren vor dem Sturz etwas unumständlicher zu bewerkstelligen als heute. Wenn ich Glück habe (und das habe ich immer), sitzt an der Rezeption eine gute Seele, die mich schon vor dem Frühstück mit einem Kafi versorgt.

Die restliche Freizeit verbringe ich, an einer Cola Zero nippend und einer elektrischen Zigi nuckelnd, im Park, wo ich den Vögeln lausche und den Tulpen beim Blühen zuschaue.


Fern sah ich zum ersten- und letzten Mal am Sonntagabend, wegen des Tatorts, doch nach zehn Minuten war mir klar: draussen im Dunkeln Blumen zu gucken, wäre spannender.

Dass sich die Tage hier so ähneln, hat durchaus Vorteile: Einerseits komme ich dank des Aufbau- und Pflegeprogramms gar nicht (oder äme nur selten) auf die Idee, Wellnessferien zu geniessen. Ich habe, wie der Psychologe sagen würde, eine Struktur, der entlang ich mich durch meine Zwangspause hangeln kann.

Andererseits spüre ich nadisna, wie es mit meinem Bein obsi geht. Nachdem ich in der Klinik eingecheckt hatte, war ich beispielsweise nicht imstande, meine linke Socke anzuziehen. Inzwischen konnte ich mir eine Frau von der Spitin genannten Patientenbetreuung organisieren, die mir dabei hilft.

A propos „Patienten“: Zu meinen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern habe ich nur sporadisch Kontakt. Ich mag mir nicht rund um die Uhr Krankengeschichten anhören, bekomme jedoch mit, weshalb es die Leute hierherverschlagen hat, und kann deshalb mit einem gewissen Unfehlbarkeitsanspruch behaupten: den von langer Hand geplanten und raffiniert in die Tat umgesetzten Selbstunfall gibt es nicht.

Den meisten passierte etwas Saudummes im Alltag, während sie Dinge taten, die sie zuvor schon zigtausende Male unfallfrei prästiert hatten; eine Treppe hinuntergehen zum Beispiel, eine Birne auswechseln oder – wie in einem mir bestens bekannten Fall – durch die Küche schlurfen. Bei anderen funktionierte von einer Sekunde auf die nächste das Gehirn nicht mehr richtig.

Die Schicksale schwanken zwischen komisch und tragisch: Ein Mann zog sich bei einem Fitnesskurs für Senioren Bänderrisse in beiden Waden zu. Eine apathisch in ihrem Rollstuhl sitzende Frau, die höchstens noch 40 Kilo wog und deren Augen jeden Glanz verloren hatten, fehlte eines Tages im Speisesaal. Wenig später machte die Nachricht die Runde, dass sie verstorben sei.

Mit meinen 57 Jahren gehöre ich zu den jüngsten Kunden der Klinik. Deshalb muss ich bei Tische immer darauf hinweisen, dass ich eine grosse Portion haben möchte. Würde ich das nicht tun, bekäme ich einen halbvollen Teller, weil sich in meinem aktuellen Umfeld die meisten Leute altersbedingt nach dem FDH-Prinzip verpflegen.

Um die 300 Personen kümmern sich in Bad Schinznach um das Wohl und Wehe der Patientinnen und Patienten. Das tun sie nicht nur höchst kompetent, sondern auch mit ungekünstelter Freundlichkeit und so aufmerksam, als ob es sich um ihre eigenen Familienangehörigen handeln würde.

Kaum hatte ich mein Zimmer bezogen, wussten auch Mitarbeitende meinen Namen (und zwar den richtigen; Hostettler nannte mich bisher niemand), die mit mir in den nächsten zwei Wochen gar nichts zu tun haben würden.

Die Angehörigen des multidisziplinären Careteams kennen die Vorlieben jedes Gastes. Als mich am Wochenende mein Schatz besuchte – sie feierte am Freitag Geburtstag – lagen auf ihrem Bett eine Glückwunschkarte plus ein Gutschein. Unser Tisch war mit einem roten Läufer gedeckt. Darauf stand eine brennende Kerze.

Natürlich: Für 270 Franken pro Tag darf man ein Mindestmass an Anstand erwarten. Was die Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Therapeuten, Servicefachangestellten und Raumpflegerinnen ihrer – zum Teil sehr, sehr anspruchsvollen bis nervigen – Klientel praktisch rund um die Uhr bieten, ist mit Geld jedoch nicht aufzuwiegen. Mit ihrem Da-Sein für andere sorgen sie für eine Atmosphäre, die der Genesung wohl ebenso förderlich ist wie Therapien und Tabletten.

Heute um 8 besuche ich zum letzten Mal meine Ärztin. Morgen werde ich nach Hause entlassen. Ich kann es – trotz der Annehmlichkeiten, die mir hier zuteil werden – kaum erwarten, die ersten Schritte zurück ins normale Leben zu machen, auch wenn ich dafür noch ein paar Wochen lang Stöcke benötige.

Simpel: the Best

In den letzten zwei Wochen wurde ich in dieser Klinik kulinarisch dermassen verwöhnt, dass ich bisweilen glaubte, in einem Kochbuch für extrem Fortgeschrittene zu wohnen:

Den eigentlichen Höhepunkt erlebte ich allerdings heute:

Die Rockröhre im Seniorenmagazin

1991, vor über 30 Jahren also, veröffentlichte die gerade erwachsen gewordene Vera Kaa ihr erstes englischsprachiges Album „Different ways“. Nicht nur, aber auch wegen ihrer sagenhaften Stimme, die bisweilen sehr an Janis Joplin erinnerte, eroberte die Luzernerin die Schweizer Musikwelt im Sturm.

Ihre Platte stellte sie auch im Reinacher Theater am Bahnhof vor. Nach dem Konzert interviewte ich (26) sie für das Wynentaler Blatt.

Das Gespräch ging weder in die Annalen des Journalismus noch in jene der Popgeschichte ein: Ich, lausig vorbereitet und möglicherweise nicht topfnüchtern, hatte keine Ahnung, was ich sie fragen soll, und sie schlechte Laune (Kunststück, bei dem Gegenüber) plus es sowieso eilig, nach Hause zu kommen.

Jetzt, in der Klinik, vo ich meinen Schenkelhalsbruch auskuriere, sah ich sie auf dem Tisch mit den Zeitschriften wieder. Die rotzfreche Rockerin von einst ziert das Titelbild der aktuellen „Zeitlupe“, dem Magazin „für Menschen mit Lebenserfahrung“. Man kann sagen: sie liegt hier genau richtig.

„Wie denkst du über das Altern?“, „Was, glaubst du, wird dir das Leben bringen?“, „Kannst du dir vorstellen, irgendwann das Cover eines Seniorenheftes zu zieren?“:

D a s, dachte ich, während ich das lesenswerte Interview mit ihr studierte, wären Themen gewesen, damals, in Reinach, als wir zäme hinter der Bühne sassen und miteinander sinnlos ein Stückchen von jener Zeit totschlugen, die uns später immer schneller durch die Finger rinnen sollte.

Hörtipp: „Family Collection“, erschienen 2015. Vera Kaa lädt darauf „zu einer faszinierenden Reise ein durch ihr jahrzehntelanges Schaffen mit Höhen und Tiefen. Ob in Mundart, Hochdeutsch oder Englisch, ob feurig, trotzig, rebellisch, unbeschwert, poetisch oder melancholisch, die ‚Göre aus der Innerschweiz‘ gibt dem Publikum genau das, was man sich von ihr gewohnt ist: Das Beste“, heisst es auf ihrer Website.

Nachdem ich das Album soeben heruntergeladen und ein erstes Mal durchgehört habe, muss ich sagen: selten traf eine Eigenwerbung den Nagel präziser auf den Kopf.