Tote Latzhose im Maschinenraum

Ich wollte mich gerade schlafenlegen, als ich an der Zimmertüre ein leises Klopfen hörte. Davor stand ein alter Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Er trug eine abgewetzte Latzhose und ein vergilbtes T-Shirt der Rolling Stones-Tour 1982.

Der Fremde sah aus, als ob er seit Jahren kein Sonnenlicht mehr gesehen hätte, und wirkte sehr, sehr müde. Ich bat ihn herein.

Er heisse Max, sagte er, während er sich aufs Sofa setzte, und arbeite im Maschinenraum meines Blogs. Dort sei er für das Zählen der Klicks verantwortlich. Jedesmal, wenn jemand einen Beitrag lese, mache er auf einem Formular ein Strichli.

„Das wusste ich nicht“, sagte ich. „Ich dachte, das gehe automatisch.“

„Chasch dänke. Das ist noch gutes, altes Handwerk.“

„Schön, eigentlich…“

„…ja, klar. Es ist einfach so…es ist einfach so, dass ich dir schon lange etwas sagen müsste, aber ich weiss nicht recht, wie ichs dir sagen soll.“

„Sags einfach“, ermunterte ich ihn, während ich das braune Pulver im Tassli mit Wasser übergoss.

Hinter mir atmete Max tief ein und aus. Dann sagte er: „Ich habe fast nichts mehr zu tun.“

„Wie, ‚fast nichts mehr zu tun‘?“, fragte ich, und stellte ihm das Kafi auf den Tisch.

Süüferli nahm Max einen Schluck von dem siedendheissen Gebräu.

„Mir geht die Arbeit aus.“

„?“

„Niemand liest mehr dein Zeug. Oder fast niemand.“

„Das heisst?“

„Ich muss ein bisschen ausholen“, sagte Max.

„Mach nur.“

„Also: Als du vor ungefähr 15 Jahren damit anfingst, Texte in diesem Blog zu veröffentlichen, hattest du jeden Tag 50 bis 80 Leserinnen und Leser.“

„Aha.“

„Im Lauf der Zeit bildete sich eine Art Stammpublikum. Es umfasste zwischen 300 und 500 Leuten.“

„Potz.“

„Ja. Und dann, als du mal auf den Kanaren warst, machtest du eine Serie. Es ging um den Playaboy. In diesen Wochen kam ich mit dem Strichlimachen nicht mehr nach. Manchmal mussten mir meine Nichte und mein Neffe helfen. 1000, 1200, 1800…es war verrückt.“

„Aber dann…“

„Nichts ‚aber dann‘. Die Zahlen gingen wieder zurück, auf ungefähr 600 pro Tag, doch das war für mich kein Grund zum Nervöswerden.“

Ich sah immer noch nicht, wo Max‘ Problem lag, und beschloss, ihn einfach weiterreden zu lassen. Was auch immer er sagte: Es schien ihm gutzutun, überhaupt wieder einmal mit jemandem sprechen zu können.

„Auch nach dieser Playaboysache hatte ich manchmal einen Höllenstress“, fuhr er fort. „Als du über den Betriebsausflug von Hofstetter, Hofstetter & Hofstetter berichtetest zum Beispiel, oder wegen des Lockdown-Tagebuchs, oder während der Rosmarinaffäre. Wenn du damals für jeden Klick 50 Rappen erhalten hättest, könntest du dir auf deiner Insel ein Häuschen kaufen, mit Pool und allem. Mein Neffe und meine Nichte hatten bei mir unten soviel zu tun, dass sie nicht mehr zur Schule gehen konnten.“

„Wieso sagtest du denn vorhin, niemand lese mein Zeug?“

„Weil es so ist.“

„600 Leserinnen und Leser sind doch nicht niemand.“

„Ich kann nicht genau sagen, wann es begann. Jedenfalls begannen sie Zahlen zwischen den letzten beiden Coronawellen zu sinken. Das taten sie erst nur ganz langsam, so dass ich es beinahe nicht merkte, aber dann immer schneller.“

„Wieviele Strichli machst du heute, durchschnittlich?“

„Mehr als 40 oder 50 sinds selten.“

„Hm.“

„Das kannst du laut sagen.“

„HM!“

„Das ist nicht lustig.“

„…“

„Ist doch wahr.“

„Woran liegt das, deiner Meinung nach?“

Umständlich zog Max ein zerknülltes Papier aus seiner hinteren linken Hosentasche. Er legte es auf den Tisch und strich es mit seinen knorrigen Händen so gut es ging glatt.

„Schau mal: Hier“ – er zeigte auf den 24. Februar – „überfiel Putin die Ukraine.“

„Und das hat mit diesem Blog insofern etwas zu tun, als…“

„Ich glaube, die Leute mögen nach zwei Jahren Corona und wegen dieses Krieges nicht mehr lesen.“

„Der Krieg ist hier aber höchstens ein Randthema“.

„Darum gehts nicht. Sie wollen überhaupt nichts mehr lesen.“

„?“

„Auf die Menschen prasselt aus dem Fernsehen, dem Radio, dem Internet und den Zeitungen rund um die Uhr eine so grosse Zahl von Nachrichten ein, dass sie damit gar nicht mehr z Schlag kommen. Diese Flut überfordert sie total, weil es immer um Leben und Tod geht. Die Dauerbeschäftigung mit dem kaputten Klima, dem Virus und der Frage, ob demnächst Atomwaffen abgeschossen werden, frustriert sie mit der Zeit, und macht ihnen Angst. Deshalb lesen, schauen und hören sie nur noch das Nötigste.“

„Sie lesen nicht mehr, weil sie zuviel zum Lesen haben.“

„Das kann man glaub so sagen, ja.“

„Phuuu.“

„Sag nichts.“

„Was meinst du: Ändert sich das wieder?“

„Ich habe keine Ahnung. Ich mache ja nur die Strichli.“

„Oder eben nicht.“

„Ja, oder eben nicht.“

„…“

„Und jetzt?“

„Gute Frage.“

„Ich weiss wirklich nicht…“

„Ist ausser dir noch jemand im Keller?“

„Nein.“

„Hast du den Schlüssel bei dir?“

„Selbstverständlich!“

„Also gut. Dann gehst du jetzt runter, schliesst ab, bringst mir den Schlüssel und gehst nach Hause.“

„Aberaber…was ist mit den Strichli?“

„Welche Strichli?“

„Wie gesagt: Das ist nicht lustig!“

„Entschuldige.“

„Ist das eine…hast du mir jetzt gerade…ich meine…“

„…nein, das ist keine Kündigung, lieber Max. Mach einfach mal Pause. Du hast sie dir nach all den Jahren mehr als verdient.“

„Wann soll ich…“

„…irgendwann. Es spielt keine Rolle.“

„Und was machst du?“

„Weiterschreiben. Grad äxtra.“

„Gibst du mir Bescheid, wenn du…“

„…aber klar doch!“

„Nicht, dass du plötzlich einen anderen…“

„…wo denkst du hin!“

„Und du bist sicher, dass es auch ohne meine Strichli…“

„Wenn es noch etwas gibt, worüber ich mir ganz sicher bin, dann ist es das.“

Für immer und ewig

Zufällig lernte ich am Fernsehen gestern die „Unsterbliche Qualle“ kennen. Zellen ihres Schirms können sich beliebig oft zu neuen und gentechnisch identischen Polypen entwickeln. So durchläuft die Meduse den Lebenszyklus immer wieder von vorne (für jene, dies genauer wissen wollen: Hier gibts mehr Infos).

Im ersten Moment dachte ich, es wäre noch gäbig, wenn wir Menschen auch über diese Fähigkeit verfügen würden.

Aber dann überlegte ich mir: Wäre es das wirklich?

Mit der Axt im Billigtaxi

Wasser braucht keine Uhr zum Reflektieren. Chli Sonne genügt.

3000 Kilometer von zuhause entfernt, bin ich auf Gran Canaria völlig auf mich alleine gestellt. Niemand ruft mich an, niemand schreibt mir, niemand hat mich gern (abgesehen davon: nüt tafme).

Die einzige, die sich regelmässig bei mir meldet, ist meine Uhr. Jeden Morgen um Punkt 8 ermuntert sie mich dazu, mir ein paar Gedanken zum Tag oder über mich selber zu machen:

Dann lege ich mich noch einmal hin, doch so hochtourig ich auch reflektiere: viele Gründe zum Grübeln gibts nicht. Das Wetter ist prächtig, die Unterkunft tiptopp, das Essen über jede Kritik erhaben, die Auftragslage erfreulich (es war eben doch richtig, von Anfang an darauf zu achten, nicht zuviele russische Kunden im Portefeuille zu haben), die Stimmung heiter, das Heimweh ohne Weiteres aushaltbar und die Hotelgaschtig nett.

Zu denken gibt mir eigentlich nur der zunehmende Wildwuchs auf dem Kopf:

Um für den Fall, dass es plötzlich doch jemandem – irgendjemandem! – nach einem Videocall mit mir sein sollte, gerüstet zu sein, gehe ich morgen zum Coiffeur.

Für den Rückweg nehme ich ein Taxi, damit die neue Frise nicht gleich ruiniert wird von dem sanften Lüftchen, das bei konstanten plusminus 25 Grad über den Archipel säuselt.

Diese Fahrt dürfte mich auf 2 Euro 70 zu stehen kommen, weil in Playa del Inglés alle Taxifahrten, unabhängig von der Distanz, 2 Euro 70 zu kosten scheinen (gut: manchmal sinds 2.50 oder 2.80, aber wenn die Preise weiter in einem solchen Affenzahn durch die Tankstellendecken schiessen wie seit ein paar Tagen, spielen die paar Cent sowieso bald keine Rolle mehr).

Ich weiss nicht, wie die Täxeler hier rechnen und womit sie ihre uralten Benz-Diesler finanzieren, aber irgendwie scheint es für sie am Ende des Tages aufzugehen, und letztlich ist das ja all that matters.

„Am Ende des Tages“ gehört übrigens zu den vielen Begriffen, die genauso zügig ins WC der Sprachgeschichte gespült gehören wie das immer wieder falsch angewandte „….passt zusammen wie die Faust aufs Auge“, die „Bagger“, die „auffahren“, sobald die Bauverwaltung „grünes Licht“ gegeben hat, von Filmtiteln inspirierte Schlagzeilen („Der mit der Axt holzt“) oder das elende „Vorprogrammiert“ mit dem überflüssigen „vor“ vornedran, denn „programmiert“ ist ja schon „vor“, heieiei!, aber bringt es angesichts ungleich grösserer Unglücke und Verbrechen auf der Welt etwas, sich über solchen Kleinkram aufzuregen?

Nein, natürlich nicht, aber de gliich

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Die knapp fünfminütige Taxifahrt vom Burgdorfer Bahnhof zum Kronenplatz hoch ist jedenfalls – Stand heute – nicht unter einer Zehnernote zu haben, und auch nur, wenn der Fahrer den Weg auf Anhieb findet. Das wirft Fragen auf.

Der die Faust auf dem Auge hat, wird sie demnächst reflektieren. Morgens um 8; das ist vorprogrammiert.

Der neue Zauber der alten Magie

Es gibt ein paar Lieder, die sich nicht covern lassen, weil sie genauso perfekt sind wie Michelangelos David oder der Hörnliauflauf meiner Mutter. Wer versucht, sie oder ihn nachzumachen, kann nur verlieren.

Es sei denn, es klemme sich jemand dahinter, der an der Entstehung des Originals massgeblich beteiligt war. Der frühere Dire Straits-Keyboarder Alan Clark zum Beispiel interpretiert „Brothers in Arms“ mit soviel Liebe (und Respekt) neu, dass es einen ganz neuen und eigenen Zauber verströmt.

Wer saxts denn

Mit Alleinunterhaltern ist es so, und zwar immer: Zu Halbplayback spielen sie sich durch die letzten 80 Jahre Musikgeschichte. In dieser Zeit wurden gewiss mehr als 150 Lieder komponiert, aber die Herren bringen – meist in ein Gilet gewandet und mit einem lustigen Hut auf dem Kopf – je-des-mal dieselben plusminus 15 zu Gehör.

Als ich gestern sah, dass mein Hotel nach dem Sonnuntergang von einem Solo-Saxofonisten heimgesucht wird, ereilte mich mitten im Lift etwas, was Fachleute zwischen Panikattacke und Fluchtreflex verorten: Das grosse Chill-Outen sollte direkt unter meinem Homeoffice stattfinden.

Aber dann sagte ich mir: Weglaufen ist keine Lösung. Erstens geht es ja, zumindest im weiteren Sinne, um Musik, und zweitens ist die Wahrscheinlichkeit, in Playa del Inglés an einem Freitagabend ein alleinunterhalterfreies Lokal zu finden, verschwindend klein.

Im schlimmsten Fall sässe ich am Ende irgendwo in den Bergen in einer Kaschemme fest, in der ein lederhäutiger Mann mit langen schwarzen Haaren El Condor pasa auf Nimmerwiederhörenkönnen panflötlet, und wenn ich unmittelbar vor dem Überschnappen jemanden fragen würde, wann der nächste Bus in die Stadt fährt, bekäme ich zur Antwort, mañana.

Weitere Alternativen gabs nicht: Die Larifari-Bar über dem Einkaufzentrum gegenüber war geschlossen, der Swingerclub im Untergeschoss desselben Gebäudes macht erst um 22 Uhr auf, doch selbst wenn: meine sexy Lingerie hängt zuhause im Trocknungsraum neben der Waschküche.

Also machte ich es mir mit einem Büchsli Cola Zero auf dem Balkon gemütlich und harrte der Klänge, die da kommen sollten.

Es wurde, wie ich zu meiner eigenen Überraschung sagen durfte, ein recht netter Abend. Der Künstler – im Hawaiihemd und mit roter Dächlikappe – dudelte heiteren Gemüts weg, was die Playlist im Laptop hergab. Die an Cüpli und Caipirinha nippende Gaschtig raste nicht vor Begeisterung, warf aber auch kein Gemüse nach ihm. Fünf von sieben Engländerinnen hüpften noch vor der letzten Zugabe angezogen in den Pool.

Um die Sache für mich chly aufzupeppen, hatte ich mir, bevor es losging, notiert, was der Mann höchstwahrscheinlich darbietet. Dann hakte ich die Treffer ab:

Nächste Woche wird es noch einfacher. Dann kommt ein Elektropianist. Die Liste steht:

Tipp am Rande: Wer einen Alleinunterhalter sucht, der Musik nicht von der Stange liefert, wendet sich am besten an Harper Seven.