Es ist höchste Zeit, meinen zwei Schildkröten ein paar Zeilen zu widmen; immerhin gehören sie zu meiner Wohnung wie die Musiksammlung und die Musiksammlung und die Musiksammlung und der Tisch und das Bett.
Die – oder vielmehr: der – grössere der beiden ist mit mir von Solothurn nach Burgdorf gezügelt. Otto hat sich hier so schnell akklimatisiert wie ich. Er machte es sich im Badezimmer schon am ersten Tag an der Wand neben dem Teppich gemütlich und…

…naja: nichts „und“. Er sitzt oder liegt oder steht (bei diesen Schildkröten weiss man das nie so genau) und philosophiert vor sich hin, vermutlich. Markus, mein Arbeitskollege, sagte einmal, dass ihm diese Tiere vor allem deshalb so imponieren, „weil sie einfach ihr Ding durchziehen“. Genau das tut Otto auch: Er zieht sein Ding durch, auch wenn nur er weiss, was das für ein Ding ist.
Bis vor Kurzem hauste mein Schildkröterich alleine am Alten Markt 6, wenn man mich nicht mitzählt (und es gibt für ihn keinen Grund, mich mitzuzählen. Ich füttere ihn nicht, ich wasche ihn nicht, ich rede nur selten mit ihm. Die einzige Pflege, die ich ihm hin und wieder angedeihen lasse, ist, ihn abzustauben).
Aber am letzten Freitag hat sein Leben eine für ihn unerwartete Wende genommen: Er ist jetzt nicht mehr alleine. Eine kleinere Schildkröte, bei der es sich ohne jeden Zweifel um eine Sie handelt, leistet ihm rund um die Uhr Gesellschaft.
Zu behaupten, dass Otto und Lisa bei ihrem ersten Treffen Freudensprünge gemacht hätten, wäre übertrieben. Bevor sie sich auch nur eines Blickes zu würdigen geruhten, taten sie, als ob der und die andere gar nicht anwesend wäre. Sie starrte in die eine Ecke, er guckte beharrlich in die Gegenrichtung:
Ich liess sie sich gegenseitig ignorieren und wusste: „Das wird schon.“
Und siehe da: Am nächsten Morgen sah es in meinem Bad ganz anders aus. Offensichtlich hatten sich die zwei über Nacht vorsichtig angenähert. Sie hatte zu ihm wohl soeben etwas gesagt, worauf er jetzt antworten wollte. Doch als er mich erblickte, klappte er sein Maul zu und schaute mich zum ersten Mal, seit wir zusammenwohnen, fast ein wenig feindselig an. Sein Blick sagte: „Bist du ganz sicher, dass du nichts Gescheiteres zu tun hast, als ausgerechnet jetzt zu duschen?“.
Ich zog mich leise und ungewaschen zurück. Minuten später glaubte ich durch die Türe ein leises Kichern und gleich darauf ein scharfes „Pssst!“ zu hören, wobei: Ich habe nicht gelauscht; wirklich nicht.
Nach einem weiteren Sonnenaufgang hätte ich, etwas peinlich berührt im Bad herumstehend, einiges darauf gewettet, dass sich die zwei mögen:

„Hoppla“, dachte ich und schlich rückwärts so diskret wie möglich aus der wiederum trocken gebliebenen Nasszelle. Eine halbe Stunde später vermeinte ich Geräusche zu hören, die ich nur bedingt mit dem in Einklang zu bringen vermochte, was ich bisher über Schildkrötengeräusche wusste.
Heute Morgen stank ich dermassen erbärmlich, dass zwei Spatzen tot vom Nachbardach fielen, als ich das Fenster öffnete. Also warf ich all meine angeborene Zurückhaltung über Bord und enterte mein Bad mit einer Entschlossenheit, die ich mir in dieser Wildheit nicht zugetraut hätte. Ich zog mich mit geschlossenen Augen aus, tappte blind unter die Dusche, tastete hilflos nach dem Schampoo, suchte pflotschnass eine halbe Ewigkeit lang nach einem Badetuch und frottierte mich schliesslich in tiefster Dunkelheit ab.
Als ich das Bad verlassen wollte, brach ich mir am Rand der Duschkabine drei Zehen. Reflexartig riss ich die Augen auf:

In absehbarer Zeit dürften sich mir Fragen stellen, über die ich in all den 44 Jahren, in denen ich nun schon auf dieser Welt bin, eigentlich noch gar nie gross nachgedacht habe: Wie lange sind Kunststoffschildkröten trächtig? Wieviele Junge werfen sie? Und, vor allem: Möchte jemand eine noch unbestimmte Anzahl ihrer Babys bei sich aufnehmen?
Hat jemand Interesse?
Irgendjemand?