Ziemlich fertig lustig

Normalerweise sitzen und liegen hier aufgestellte Leute. Sie nippen an Sangrias und geniessen das unbeschwerte Leben auf der Insel. Gestern wars in der Lounge jedoch sehr, sehr ruhig.

Der Krieg in der Ukraine wirft seine Schatten auch auf die Sonneninsel Gran Canaria. Die südländische Entspanntheit, die das Leben hier soeben noch prägte, ist buchstäblich über Nacht weitgehend verflogen.

Fünf Stockwerke unter meinem Zimmer hörte ich die Gäste im Poolbereich immer reden und lachen und planschen. Dieser Geräuschteppich fehlte gestern. Die wenigen Leute, die sich am Schwimmbecken und im Openairbeizli tummelten, starrten stundenlang stumm auf ihre Handys.

Einige von ihnen sind von den Ereignissen direkt betroffen: Die Touristinnen und Touristen aus Polen, Litauen und Estland haben keine Ahnung, was sie bei der Rückkehr in ihre an das Kriegsgebiet grenzende Heimat erwartet.

Mehrere Hotelmitarbeitende grüssten – bewusst oder unbewusst – nicht mehr mit einem locker-lässigen „¡Hola!“, sondern mit dem etwas formelleren „buenos dias“. Allenthalben – zum Beispiel auch im Supermarkt nebenan und im Restaurant gegenüber – machte sich eine zu diesem Umfeld völlig unpassende Ernsthaftigkeit breit.

Weil ich keinerlei Lust darauf verspürte, etwas zu schreiben (das ist mir in den letzten 56 Jahren genau einmal passiert), verbrachte ich den Abend fernsehend im Bett. Auf den Kanälen, die ich hier empfangen kann, folgte eine Ukraine-Sondersendung der nächsten.

Politikerinnen und Politiker aus den unterschiedlichsten Lagern, Militärexperten und Wirtschaftsfachleute versuchten in Reportagen, Interviews und Talkshows zu erklären, was nicht zu erklären ist. Ihre Rat- und Hilflosigkeit war beinahe greifbar.

Am meisten imponierte mir Kevin Kühnert, der Generalsekretär der deutschen SP. Er sagte bei „Maischberger“ in aller Offenheit, er tue sich „am heutigen Tag schwer damit, mich mal schnell ins Fernsehen zu setzen und drei steile Thesen rauszuhauen, wie man damit jetzt richtigerweise umgehen sollte. Ich glaube, wir tasten uns alle notwendigerweise voran.“

Während ich das Geschehen auf dem Bildschirm mit derselben seltsamen Faszination verfolgte, mit der man – auch widerwillig – einen Unfallplatz auf der Autobahn betrachtet, teilte ich einem lieben Menschen mit, dass ich gerade eine Politsendung nach der anderen schaue. Daraufhin kam es zu einem kurzen Dialog, der für mich 24 Stunden zuvor undenkbar gewesen wäre:

Irgendwann fiel mir auf, wie ruhig es draussen war: kein Gehupe, kein Gejohle, kein gar nichts. Als ich auf den Balkon hinausging, hatte ich eine Art Flashback: Vor genau einem Jahr wirkten die Strassen von Playa del Inglés wegen der nächtlichen Corona-Ausgangssperre genauso tot.

Dafür war hinter zig Fenstern der umliegenden Hotels ein bläuliches Flackern zu sehen. Statt sich für ein feines Essen oder die Disco schickzumachen, sassen die Gäste vor ihren TV-Geräten.

Und hofften, wie jedermann und -frau rund um den Globus, vergeblich darauf, dass unten am Bildschirm auf einmal ein Band durchläuft, auf dem steht, +++Breaking News+++ „Putin stellt Kampfhandlungen ein“ +++Breaking News+++ „Russland zieht sich aus der Ukraine zurück“, oder dass plötzlich ein Moderator auftaucht und sagt, das alles sei nur die Neuauflage eines Medienspektakels gewesen, das vor knapp 100 Jahren für grosses Aufsehen gesorgt hatte.

Damals, am 30. Oktober 1938, strahlte das Radio Network CBS ein von Orson Welles dermassen realistisch inszeniertes Hörspiel aus, dass Millionen von Menschen in Angst und Schrecken versetzt wurden.

Die Sendung hiess „Krieg der Welten“.

3 Kommentare

  1. … geht mir genauso, Hannes. Morgen grossen Geburtstag feiern, wie denn…?? Was sind unsere Pläne noch wert angesichts des Grauens – das wir, unsere Generation, ausserhalb und hinter uns glaubten? Ich funktioniere unter grösster Anstrengung, fühle mich ausser Verstand. Und jede seichte Unterhaltung in sozialen Medien, am Nebentisch, beim Einkauf, macht mich mindestens so ohnmächtig wie die Schreckensnachrichten…

    Ich hoffe abzustumpfen, um zur Ruhe zurück zu finden; und lehne mich dennoch genau gegen diese Gleichgültigkeit auf: Wir müssen mitfühlen, mitleiden, mitreden – protestieren gegen diesen Krieg!

  2. Es geht mir grad genau wie Dir. Dein Text hat mich berührt.

    Danke für Dein so ehrlich und berührendes Geschriebenes. Mir fehlen in diesen Zeiten einfach die Worte.

  3. Es muss uns allen zu denken geben, leider.
    Betroffenheit, Angst, Unfassbarkeit.
    Leider kein böser Traum.

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