Zwischen Pool und Putin

Wir erinnern uns: Wer während der Corona-Pandemie auch nur erwog, hinter die eine oder andere Virenbekämpfungsmassnahme ein Fragezeichen zu setzen, wurde von jenen, die jede Vorschrift des Bundesrates mit einem ???? quittierten, als „Covidiot“ abgestempelt.

Das war gäbig: Mit Covidioten und deren Argumenten brauchte man sich als aufgeklärter Bürger und den Durchblick habende Bürgerin nicht auseinanderzusetzen. Die Standardbegründung lautete entweder, „auf dieses Diskussionsniveau lasse ich mich nicht hinunter“ oder/und, „das ist mir zu blöd“.

Jetzt, wo wir chäfermässig das Gröbste scheints überstanden haben, wäre vielleicht keine schlechte Gelegenheit, diese Markierungen nadisna zu entfernen. Das würde hüben und drüben die Bereitschaft voraussetzen, ein paar Schritte über den eigenen Schatten hinweg aufeinander zuzugehen. Mit chly gutem Willen, denkt man, sollte das in einer Zivilisation, in der am Ende ja doch alle aufeinander angewiesen sind, zu schaffen sein.

Stattdessen druckt man neue Etiketten mit der Aufschrift „Putinversteher“. Sie dienen der Ächtung von Zeitgenossinnen und -nossen, die es wagen, sich zustimmend oder, eben, verständnisvoll zu den Positionen der russischen Seite im Krieg gegen die Ukraine zu äussern.

Sich von dieser Gruppe zu distanzieren, ist allerdings kein Problem: eine Friedenstaube im Facebook-Profilbild oder eine gelb-blaue Krawatte am Bürokleiderhaken genügt.

Lieber spät als nie zur Besinnung gekommene Covidiotinnen und -idioten müssen sich schon mehr anstrengen, wenn sie in die *räusper* normale Gesellschaft zurückkehren wollen: ohne Zertifikat, das ihnen mindestens zwei Impfungen attestiert, und einer persönlich signierten Autogrammkarte von Alain Berset in der Hand brauchen sie gar nicht erst an deren Türe zu klopfen.

Offenbar braucht der Mensch mehr denn je Schubladen, um das für ihn Gute und Böse auf Anhieb trennen zu können. So darf er sich jederzeit sicher sein, auf der richtigen Seite zu stehen. Angesichts einer sich zunehmend verkomplizierenden Weltordnung liegt diese Denkweise nahe.

Sie trägt jedoch nur wenig zur – allgemein ersehnten – Entspannung jener Lage bei, welcher sie entspringt.

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Das nennt man wohl Express-Schockbewältigung: Nachdem russische Truppen die Ukraine überfallen hatten, wirkten viele Fremde und Einheimische in meinem Hotel, im Supermarkt gegenüber und im nahen Restaurant wie betäubt. Tags darauf war das Entsetzen verflogen.

Völlig losgelöst von Gedanken daran, was sich zum Teil sehr nahe an den Grenzen zu ihrer Heimat abspielt, geniessen die Gäste ihre Ferien. Selig sünnelen sie am Pool, lachend höcklen sie beisammen, lustvoll holen zwei von ihnen im Zimmer 711 in diesem Moment nach, was ihnen durch Isolationen, Social Distancing und Heimunterricht seit Anfang 2020 versagt geblieben sein muss.

Diese Nonchalance kann, wer sich wirklich Mühe gibt, ein Stück weit nachvollziehen: All diese Leute flogen nach Gran Canaria, um zum ersten Mal seit Langem wieder einen Hauch Freiheit zu erleben – unter was für einer Unfreiheit auch immer sie gelitten haben mögen -, und nicht, um sich die Köpfe schon wieder wegen einer Grosskrise zu zerbrechen, bei der sowieso kein Mensch drauskommt (abgesehen von den zig Millionen von Youtube-Experten natürlich, die sich auf dem Feld der Geopolitik und in den Plänen der Militärstrategen bereits ebensogut auskennen wie soeben noch auf dem Terrain der Epidemiologie).

Zwei Jahre lang mussten sie aus Rücksicht auf ihre Mitbürgerinnen und -bürger mit unsäglichen Einschränkungen leben. Nun dürfen sie endlich wieder einmal etwas für sich tun.

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