Der Wahlwahnsinn

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634 Frauen und 1271 Männer möchten am 30. März (wieder) in den Grossen Rat des Kantons Bern gewählt werden. Manche Kandidatinnen und Kandidaten ellböglen mit an Nötigung grenzender Aufsässigkeit um einen der 160 Sitze.

In den Städten sind die Plätze überstellt mit Plakaten. Von den Hauswänden grinst einen alle paar Meter jemand an, der verspricht, „engagiert“, „kompetent“ und „erfahren“ die maroden Finanzen in den Griff zu bekommen oder sich um die Anliegen der Schwächsten zu kümmern oder die Umwelt zu retten oder gleich alles miteinander in Ordnung zu bringen.

Auf dem Land bietet sich dasselbe Bild: Keine Wiese, kein Acker und keine Bauernhausfassade, auf oder an der nicht mindestens ein überlebensgrosses Porträt einer Allwissenden oder eines Alleskönners prangt.

Wer vor dem Wahlkampf zuhause in Deckung geht, muss jeden Tag einen Wust von Flyern von Möchtergernpolitikerinnen und -politikern im Altpapier entsorgen. Wer seinen Computer aufstartet, um nachzuschauen, was auf Facebook und Twitter so läuft, ist eine halbe Stunde lang mit dem Wegklicken von Politwerbung beschäftigt, bevor er auf etwas Gefreutes stösst.

An ein Entrinnen vor dem Wahlwahn ist nicht zu denken: Mit etwas Glück gelingt es einem vielleicht, mit hochgeschlagenem Mantelkragen und starr zu Boden gerichtetem Blick in aller Herrgottsfrühe durch die Fussgängerzone zu huschen, ohne von Wildfremden mit einem Gipfeli beglückt zu werden.

Doch spätestens am Bahnhof, wenn die Flüchtenden schon glauben, es geschafft zu haben, gibt es kein Entrinnen mehr: Bei der Unterführung zu den Geleisen schneidet ihnen garantiert ein Grüppli von schampar aufgestellt wirkenden Männern und Frauen mit Kaffeebechern in der einen und Flugblättern in der anderen Hand den Weg ab, um sie mit der Routine von altgedienten Zeugen Jehovas in ein persönliches Gespräch zu verwickeln.

Ich weiss nicht, wieviel die Parteien und deren Exponentinnen und Exponenten für diese Stimmenfangversuche ausgeben. Aber wenn man bedenkt, dass der Druck eines Weltformat-Plakates knapp zehn Franken kostet, kann man davon ausgehen, dass nur schon die flächendeckende Verschandelung der Stadt- und Landschaft eine hübsche Stange Geld kostet (das amänd auch sinnvoll investiert werden könnte; zum Beispiel in die Sanierung der Finanzen oder die Unterstützung der Schwächsten oder die Rettung der Umwelt).

Gefühlsmässig bearbeiten die Angehörigen der linken Lager die Öffentlichkeit deutlich stärker mit medialen und leibhaftigen Auftritten als ihre Kontrahentinnen und Kontrahenten aus eher rechtsliegenden Gefilden.

Am diskretesten agieren – zumindest in meinem Umfeld – die BDP und die Grünliberalen. Sie gehen vermutlich davon aus, dass ihre Stärken und Ziele weitgehend bekannt sind und setzen daher mit einem Selbstvertrauen, dass anderen fremd zu sein scheint, auf das Prinzip „Auffallen durch Nichtauffallen“.

Alle anderen gehen offensichtlich davon aus, dass sie auf ihr Zielpublikum je sympathischer, vertrausenserweckender und glaubwürdiger wirken, desto penetranter sie auftreten.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob diese Rechnung aufgeht.

Nachtrag 31. März: Die Wahlbeiteiligung lag bei 30 Prozent. Oder anders gesagt: Sieben von zehn Wählerinnen und Wählern liess das Polittheater kalt.

10 Kommentare

  1. Warum ich keinen wähle, der sich auf einem dieser 8:15-Plakate präsentiert: Wer schon beim Wahlkampf nicht den Mut hat, etwas anderes zu machen als alle anderen, wird auch im Amt keine grossen Stricke zerreissen.

  2. Das hab ich erstens angenommen und zweitens kann ich auch jedes Wort von Thomas Schall unterzeichnen.

    Die Plakate haben auch objektiv zugenommen. Abgenommen haben die Inserate und auch die Flyer sind weniger geworden. Auf dem Wahlprospekt der SVP in unserem Wahlkreis sind mittlerweile nur noch die Fotos, der Name und die Kandidatennummer zu sehen. Inhalte sind nicht mehr gefragt, dafür möglichst grelle und laute Verpackungen.

    Mir geht es einfach darum, dass jedes Problem mindestens zwei Seiten hat. So wie ich all den Jammeris wegen zu hohen Steuern jeweils empfehle, sich doch in Somalia niederzulassen, da man dort keine Steuern zahlt und auch die Bodenpreise sagenhaft günstig sind, müsste man hier analog das Beispiel Nordkorea anführen: Keine Plakate von verschiedenen Kandidaten, dafür überlebenshohe Statuen eines einzigen Kandidaten und das lebenslänglich.

    Da leb ich mit den Plakaten während sechs Wochen alle vier Jahre eigentlich noch ganz gut.

  3. Ich muss Hannes Zaugg leise widersprechen.

    Ich denke, die Art des Politisierens hat sich geändert. In der (wahrscheinlich rosarot verklärten) Vergangenheit spielten Inhalte noch eine grössere Rolle als die Personen.

    Heute wird mehr über Schlagworte und hübsche Bilder politisiert. Eine Aussage, die mehr als fünf Worte umfasst, liest kaum einer mehr. Darum findet Politik auf Plakaten statt.

    Bei mir haben solche Plakate eher den gegenteiligen Effekt. Viele fallen alleine durch die Plakate für mich durch das Sieb.

    Somit wäre der von Hannes Zaugg ausgemachte Grund eine Folge des Genervtseins des Wahlvolks. Und darauf mit noch mehr Plakaten und noch aggressiverer Werbung zu reagieren, würde diesen Effekt noch verstärken.

  4. Gegen die schöne Analyse von Hannes Zaugg-Graf kann wohl nichts eingewendet werden. Er hat natürlich recht.

    Aber nerven tut die Wahlwerbung trotzdem, umso mehr, als man ja schon zu wissen glaubt, dass sich auch nach den Wahlen nicht viel ändern wird. Regieren wird weiterhin, wer die Macht hat. Und das sind nun mal nicht in erster Linie die Gewählten, sondern das Geld dahinter, die Wirtschaft, die Lobbies, die grossen Verbände usw.

    Und auch die Grabenkämpfe zwischen sogenannt Links und Rechts, Stadt und Land usw. werden höchstwahrscheinlich weiter ausgetragen. Und eine gesunde Sachpolitik zum Wohle des Kantons wird wohl weiterhin hinten anstehen müssen.

    Aber ich lasse mich in den nächsten vier Jahren gerne eines Beseren belehren und werde auch die Arbeit des neuen Parlaments aufmerksam verfolgen…

  5. @ Hannes Zaugg: Soweit, so einleuchtend.

    Allerdings ist auch denkbar, dass der grossen Mehrheit die Politik genau wegen der immer aufdringlicheren Eigenwerbung ihrer Exponentinnen und Exponenten am Arsch vorbeigeht.

  6. Persönlich nervt mich die Werbung zu Wahlen sehr. Wohl nicht zuletzt deshalb halte ich mich sehr zurück.

    Aber auch ich wage es nicht, gar nichts zu machen. Das hat damit zu tun, dass man im Falle einer Nichtwiederwahl (als Bisheriger) oder einer knappen Nichtwahl (als Neukandidierender) sich lange fragt, wo man allenfalls mehr hätte machen können für die Eigenwerbung. Leute, die eine solche Nichtwiederwahl bereits einmal erlebt haben, tendieren deshalb dazu, etwas zu überdrehen. Es ist also eine Frage des Abschätzens.

    Du bewirbst auch nicht restlos alle deine Blogeinträge auf Facebook. Mutmasslich hast du in diesem Blog aber mehr Besuch, wenn dus machst.

    Nun muss man sich fragen, was man mit Politwerbung allenfalls bewirken kann. Man wird nicht in ein Amt gewählt, weil man etwas kann, sondern, weil man den Namen und das dazugehörigen Gesicht kennt. Allenfalls als Wiederkandidierender konnte ich bereits zeigen, was ich politisch mache. Aber auch hier ist wichtig, dass die Leute deinen Namen kennen, selbst, wenn sie nicht genau wissen, woher.

    Namen, von denen man schon gehört hat, werden häufiger aufgeschrieben. Warum meinst du, ist Matthias Aebischer auf Anhieb Nationalrat geworden? Er war vorher noch nie auch nur andeutungsweise politisch tätig. Wenn ich nun nicht gerade aus Film, Funk und Fernsehen bekannt bin, muss ich versuchen, mich anders in das Bewusstsein der Leute zu drängen. Folglich lasse ich Plakate drucken, schalte Inserate in der BZ (und bezahle damit – jedenfalls im Moment noch – einen Teil deines Lohns) verschicke Postkaten und Flyer und stelle mich dir am Morgen auf dem Weg zur Arbeit in den Weg und drücke dir ein Gipfeli in die Finger im Wissen darum, dass du es nicht wagen wirst, nur dieses Gipfeli und nicht auch das dazugehörige Flyerli zu nehmen (das du im Zugabteil gleich wieder entsorgst).

    Jetzt muss man aber wissen, wie die meisten Leute wählen. Viele politisch aktive Menschen werfen Glaubensbekenntnisse ein. Das heisst, sie werfen eine unveränderte Liste ein. Die kann man vernachlässigen, denn diese Leute wählen mich und meine Partei unbesehen davon, was ich mache und aufwende.

    Eine Mehrheit hingegen wählt wirklich aus und stellt sich ihr Menu aus all den Angeboten zusammen.

    Genau von diesen Leuten kann ich vielleicht mit guter Präsenz einige hundert Namen einsammeln, davon vielleicht zwanzig mit direkten Kontakten auf der Strasse. Man sich natürlich fragen, ob sich bei dieser Ineffizienz der Aufwand lohnt.

    Das Wichtigste überhaupt ist: Regelmässig gehen bei kantonalen Wahlen 70% gar nicht an die Urne. Durch die geringe Beteiligung erhält jede einzelne Stimme viel mehr Gewicht und wird entsprechend umkämpft.

    Fazit: „Schuld“ an dieser subjektiv immer aufdringlicheren Politwerbung ist die grosse Mehrheit, der es am Arsch vorbei geht, wer politisch auf Kantonsebene was entscheidet.

  7. Kultur erwähnt eh nie jemand! Ich habe mir die Mühe genommen, das gesamte Wahlmaterial meines Wahlkreises eingehend zu studieren, inkl. der persönlichen „Zielsetzungen“. 3 (in Worten DREI) KandidatInnen wollen sich u.a. für die Kultur einsetzen…

  8. Die Kulturförderung spielt für die Kandidierenden ja nur sehr peripher ein Röllchen. Ich habe jedenfalls noch kein Plakat gesehen, auf dem steht: „Für die Kultur: XY!“.

    Wichtiger sind für die Möchtegerns, eben, die Finanzen, die Umwelt und andere vermeintlich knackigere Themen. Deshalb habe auch ich die Kultur nicht erwähnt.

  9. Machs wie ich: Geh nicht mehr aus dem Haus, leer den Briefkasten nicht mehr, nimm keine Anrufe entgegen, meide Facebook, verkriech Dich unter dem Bett…

    Deinen Blog habe ich natürlich gelesen und mit Entsetzen feststellen müssen, dass bei „sinnvollen Investitionen“ auch bei Dir das Wort Kultur nicht erscheint! Damit bist Du für mich selbst als Nichtkandidat nicht wählbar und kannst ruhig auch am Wahltag unter dem Bett bleiben!

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