Wieder auf den Beinen

Update für alle, die sich in den letzten Tagen und Wochen nach meinem Befinden erkundigten (tuusig Dank😘): Ich legte die Krücken nun weg, um die ersten Schritte zurück in die Normalität zu gehen. Das klappte so gut, dass ich mich ein paar Stunden später aufs Velo setzte, um mit Tess an der Leine – quasi als Stütze – ein Ausfährtli zu machen.

Kurz: Zwei Monate nach dem Oberschenkelhalsbruch bin ich schon wieder fast wie vorher auf den Beinen.

Schritt für Schritt in die Normalität

Gelegentlich kommt es mir vor, als ob ich mich schon vor Monaten in dieser Klinik einquartiert hätte. Tatsächlich sind seit der Reparatur meines Oberschenkelhalses aber erst drei Wochen vergangen.

Die Zeit spielt hier ein seltsames Spiel. Mal lässt sie die Stunden zu Minuten gerinnen, mal dehnt sie Minuten zu Stunden. Ob Montag oder Mittwoch ist, spielt in meiner Wahrnehmung – wie schon während der Corona-Lockdowns – keine Rolle mehr.

Die Tage laufen immer gleich ab: Nach dem Zmorge gehts ab in die Physiotherapie, dann in den Kraftraum, dann zurück in den Speisesaal zum Zmittag, dann wieder in die Physio, dann zurück an die Fitnessgeräte und schliesslich in die Kompressen-Abteilung, wo die Wunde mit eiskaltem Salz gepflegt wird.

Abends verziehe ich mich aufs Zimmer. Um plusminus 21 Uhr lösche ich das Licht, wobei: ich könnte es genausogut brennenlassen, denn mit dem Schlafen haperts. Sobald ich mich im Bett bewege, stichts oder klemmts oder rupfts in der oberen Hälfte des linken Beins. Aber henu: Das zeigt, dass die Muskeln und Sehnen arbeiten. Und genau das sollen sie ja so schnell wie möglich wieder tun.

Das Duschen, Anziehen und der Toilettenkram waren vor dem Sturz etwas unumständlicher zu bewerkstelligen als heute. Wenn ich Glück habe (und das habe ich immer), sitzt an der Rezeption eine gute Seele, die mich schon vor dem Frühstück mit einem Kafi versorgt.

Die restliche Freizeit verbringe ich, an einer Cola Zero nippend und einer elektrischen Zigi nuckelnd, im Park, wo ich den Vögeln lausche und den Tulpen beim Blühen zuschaue.


Fern sah ich zum ersten- und letzten Mal am Sonntagabend, wegen des Tatorts, doch nach zehn Minuten war mir klar: draussen im Dunkeln Blumen zu gucken, wäre spannender.

Dass sich die Tage hier so ähneln, hat durchaus Vorteile: Einerseits komme ich dank des Aufbau- und Pflegeprogramms gar nicht (oder äme nur selten) auf die Idee, Wellnessferien zu geniessen. Ich habe, wie der Psychologe sagen würde, eine Struktur, der entlang ich mich durch meine Zwangspause hangeln kann.

Andererseits spüre ich nadisna, wie es mit meinem Bein obsi geht. Nachdem ich in der Klinik eingecheckt hatte, war ich beispielsweise nicht imstande, meine linke Socke anzuziehen. Inzwischen konnte ich mir eine Frau von der Spitin genannten Patientenbetreuung organisieren, die mir dabei hilft.

A propos „Patienten“: Zu meinen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern habe ich nur sporadisch Kontakt. Ich mag mir nicht rund um die Uhr Krankengeschichten anhören, bekomme jedoch mit, weshalb es die Leute hierherverschlagen hat, und kann deshalb mit einem gewissen Unfehlbarkeitsanspruch behaupten: den von langer Hand geplanten und raffiniert in die Tat umgesetzten Selbstunfall gibt es nicht.

Den meisten passierte etwas Saudummes im Alltag, während sie Dinge taten, die sie zuvor schon zigtausende Male unfallfrei prästiert hatten; eine Treppe hinuntergehen zum Beispiel, eine Birne auswechseln oder – wie in einem mir bestens bekannten Fall – durch die Küche schlurfen. Bei anderen funktionierte von einer Sekunde auf die nächste das Gehirn nicht mehr richtig.

Die Schicksale schwanken zwischen komisch und tragisch: Ein Mann zog sich bei einem Fitnesskurs für Senioren Bänderrisse in beiden Waden zu. Eine apathisch in ihrem Rollstuhl sitzende Frau, die höchstens noch 40 Kilo wog und deren Augen jeden Glanz verloren hatten, fehlte eines Tages im Speisesaal. Wenig später machte die Nachricht die Runde, dass sie verstorben sei.

Mit meinen 57 Jahren gehöre ich zu den jüngsten Kunden der Klinik. Deshalb muss ich bei Tische immer darauf hinweisen, dass ich eine grosse Portion haben möchte. Würde ich das nicht tun, bekäme ich einen halbvollen Teller, weil sich in meinem aktuellen Umfeld die meisten Leute altersbedingt nach dem FDH-Prinzip verpflegen.

Um die 300 Personen kümmern sich in Bad Schinznach um das Wohl und Wehe der Patientinnen und Patienten. Das tun sie nicht nur höchst kompetent, sondern auch mit ungekünstelter Freundlichkeit und so aufmerksam, als ob es sich um ihre eigenen Familienangehörigen handeln würde.

Kaum hatte ich mein Zimmer bezogen, wussten auch Mitarbeitende meinen Namen (und zwar den richtigen; Hostettler nannte mich bisher niemand), die mit mir in den nächsten zwei Wochen gar nichts zu tun haben würden.

Die Angehörigen des multidisziplinären Careteams kennen die Vorlieben jedes Gastes. Als mich am Wochenende mein Schatz besuchte – sie feierte am Freitag Geburtstag – lagen auf ihrem Bett eine Glückwunschkarte plus ein Gutschein. Unser Tisch war mit einem roten Läufer gedeckt. Darauf stand eine brennende Kerze.

Natürlich: Für 270 Franken pro Tag darf man ein Mindestmass an Anstand erwarten. Was die Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Therapeuten, Servicefachangestellten und Raumpflegerinnen ihrer – zum Teil sehr, sehr anspruchsvollen bis nervigen – Klientel praktisch rund um die Uhr bieten, ist mit Geld jedoch nicht aufzuwiegen. Mit ihrem Da-Sein für andere sorgen sie für eine Atmosphäre, die der Genesung wohl ebenso förderlich ist wie Therapien und Tabletten.

Heute um 8 besuche ich zum letzten Mal meine Ärztin. Morgen werde ich nach Hause entlassen. Ich kann es – trotz der Annehmlichkeiten, die mir hier zuteil werden – kaum erwarten, die ersten Schritte zurück ins normale Leben zu machen, auch wenn ich dafür noch ein paar Wochen lang Stöcke benötige.

Simpel: the Best

In den letzten zwei Wochen wurde ich in dieser Klinik kulinarisch dermassen verwöhnt, dass ich bisweilen glaubte, in einem Kochbuch für extrem Fortgeschrittene zu wohnen:

Den eigentlichen Höhepunkt erlebte ich allerdings heute:

Die Rockröhre im Seniorenmagazin

1991, vor über 30 Jahren also, veröffentlichte die gerade erwachsen gewordene Vera Kaa ihr erstes englischsprachiges Album „Different ways“. Nicht nur, aber auch wegen ihrer sagenhaften Stimme, die bisweilen sehr an Janis Joplin erinnerte, eroberte die Luzernerin die Schweizer Musikwelt im Sturm.

Ihre Platte stellte sie auch im Reinacher Theater am Bahnhof vor. Nach dem Konzert interviewte ich (26) sie für das Wynentaler Blatt.

Das Gespräch ging weder in die Annalen des Journalismus noch in jene der Popgeschichte ein: Ich, lausig vorbereitet und möglicherweise nicht topfnüchtern, hatte keine Ahnung, was ich sie fragen soll, und sie schlechte Laune (Kunststück, bei dem Gegenüber) plus es sowieso eilig, nach Hause zu kommen.

Jetzt, in der Klinik, vo ich meinen Schenkelhalsbruch auskuriere, sah ich sie auf dem Tisch mit den Zeitschriften wieder. Die rotzfreche Rockerin von einst ziert das Titelbild der aktuellen „Zeitlupe“, dem Magazin „für Menschen mit Lebenserfahrung“. Man kann sagen: sie liegt hier genau richtig.

„Wie denkst du über das Altern?“, „Was, glaubst du, wird dir das Leben bringen?“, „Kannst du dir vorstellen, irgendwann das Cover eines Seniorenheftes zu zieren?“:

D a s, dachte ich, während ich das lesenswerte Interview mit ihr studierte, wären Themen gewesen, damals, in Reinach, als wir zäme hinter der Bühne sassen und miteinander sinnlos ein Stückchen von jener Zeit totschlugen, die uns später immer schneller durch die Finger rinnen sollte.

Hörtipp: „Family Collection“, erschienen 2015. Vera Kaa lädt darauf „zu einer faszinierenden Reise ein durch ihr jahrzehntelanges Schaffen mit Höhen und Tiefen. Ob in Mundart, Hochdeutsch oder Englisch, ob feurig, trotzig, rebellisch, unbeschwert, poetisch oder melancholisch, die ‚Göre aus der Innerschweiz‘ gibt dem Publikum genau das, was man sich von ihr gewohnt ist: Das Beste“, heisst es auf ihrer Website.

Nachdem ich das Album soeben heruntergeladen und ein erstes Mal durchgehört habe, muss ich sagen: selten traf eine Eigenwerbung den Nagel präziser auf den Kopf.

Ein Bein in guten Händen

Es ist schon erstaunlich: Ein Unfall genügt und schwupp: lernt man Dutzende von kompetenten, engagierten, empathischen (nicht gspürigen!) und respektvollen, Menschen kennen, von denen man nie zuvor gehört hatte.

Neun Tage nach meinem Sturz auf den Küchenboden und acht Tage nach der Operation des linken Oberschenkelhalsknochens: tuusigmillione Dank an die schnelle Eingreiftruppe von der Rettung, dem Röntger, Elza Memeti, die Chefärztin der Chirurgie im Spital Menziken, für ihre solide Büez und ihr unkompliziertes Wesen und überhaupt, ihre Oberärzte und deren Assistenten, die Alleskönner und Nichtskenner vom Notfall, die Änas Anth Anne Einschläferungsleute, die ungekünstelt freundlichen und allzeit bereiten Angehörigen der Pflegeabteilung, die Physiotherapeutin, den Masseur, die Küchenequipe sowie die Putzmann und -frauschaft. Ihr alle habt mich seit Ostersamstagabend keine Sekunde lang daran zweifeln lassen, dass mit meinem lädierten Bein alles gut kommen wird. 

Ich konnte mir unmöglich sämtliche Namen der guten Geister um mich herum merken. Einige Personen sah ich nur einmal, andere nahm ich wegen allerlei chemischer Substanzen lediglich durch eine Art Nebel wahr.

Was ihr, liebe Mitarbeitende jenes Spitals, in welchem ich vor bald 58 Jahren zur Welt kam, für mich getan habt, werde ich aber keinem und keiner einzigen von euch je vergessen. 

Wenn ich beim nächsten Lockdown auf meinem Balkon stehe und dem medizinischen Personal applaudiere, werde ich extra für euch zehn Minuten länger klatschen.

Auch wenn mir völlig klar ist, dass dem, was ihr Tag für Tag und Nacht für Nacht leistet, auch eine zweiwöchige Standing Ovation nicht annähernd gerecht werden könnte.

Am Mittwoch ziehe ich weiter nach Bad Schinznach. Ich freue mich sehr auf die dort anstehenden zwei Reha-Wochen, wobei: im Moment weiss noch niemand, wer diese bezahlt.

Die Krankenkasse, der ich seit meiner Volljährigkeit eine sechsstellige Summe an Prämien überwies, weigert sich, die Kosten für die Nachbehandlung zu übernehmen.

„Ein Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik“ habe „nicht automatisch eine volle Kostenübernahe durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung zur Folge“, belehrte mich die Kasse schriftlich. Voraussetzung dafür, dass sie die Reha finanziere, sei, „ein Leiden, das eine medizinische Rehabilitation unter Spitalbedingungen erfordert“.

Ihr, der Kasse, lägen jedoch „keine Angaben vor, die eine stationäre Rehabilitation begründen“ würden. Mit anderen Worten: Nach Ansicht der Kasse wird mein Bein so oder so verheilen. Das ist ein Top-Argument: Immerhin ist bei jedem Spitalpatienten und jeder Spitalpatientin davon auszugehen, dass er oder sie irgendwann auch ohne kostspielige Therapien wieder gesund wird (und falls nicht, besteht immer noch die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie kurz-, mittel- oder langfristig stirbt.)

Aber immerhin: eine „Kurbedürftigkeit“ anerkennt die Kasse. An die Aufenthaltskosten steuere sie zwar nichts bei, aber – yeah, yeah, yeah! – an „die medizinisch anerkannten Heilanwendungen“ – abzüglich meiner Beteiligung, versteht sich. Diese setze sich aus meiner Jahresfranchise und 10 Prozent Selbstbehalt zusammen.

Das Spital hat nun ein Wiedererwägungsgesuch gestellt. Es tut das, wie mir Verantwortliche berichteten, mit bemühender Regelmässigkeit.

Und gelegentlich sogar mit Erfolg.

Nachtrag: Die Kasse bezahlt die Reha nicht, sondern nur – zumindest teilweise – die physiotherapeutischen Massnahmen während der Kur.