Irgendwie wars halt schon eine unbeschwerte Zeit damals, vor zwei Jahren (schon!), als man auf einmal wochenlang nicht nur nichts mehr tun musste, sondern nichts mehr tun durfte.
Jedenfalls: Wenn ich zwischen der neuen Wirklichkeit, die uns damals überraschte, und jener, mit welcher wir uns heute zu arrangieren versuchen, wählen dürfte: Ich wüsste, welche ich nähme.
„Ich halte es für wahrscheinlich, dass Putin Nuklearwaffen einsetzt, wenn dieser Krieg komplett eskaliert. Es gibt ein Risiko, und dieses Risiko nimmt zu. Die Konsequenzen wären katastrophal, nicht nur für die Ukraine, sondern für die ganze Welt.“
„Es ist schwierig, das alles zu beurteilen, weil uns die Details rund um den Umgang Russlands mit seinen Atomwaffen nicht bekannt sind.“
„Ich will keine Panik schüren.“
(Wie auch schon gesagt: Gut, gibt es zum Krieg in der Ukraine immer wieder erhellende Analysen von Fachleuten. Diesmal ist Friedensnobelpreisträgerin Beatrice Fihn mit Einordnen dran. Das Interview liegt hinter der Bezahlschranke.)
Dieses Bild hat nicht das Geringste mit dem Text darunter zu tun. Es ist nur da, damit ich den Beitrag auf Facebook stellen kann, ohne, dass sich jemand diskrimiert fühlen muss.
Verblüffend regelmässig schreiben mir Frauen – meist aus Osteuropa, gelegentlich aber auch aus Amerika oder China – dass sie mich treffen möchten.
Akuten Handlungsbedarf verspüre ich nie. Deshalb lege ich ihre Zuschriften am selben Ort ab, wo ich auch die Angebote von wohlwollenden Mitmenschen aus Nigeria deponiere, die mir gegen ein kleines Entgelt das Erbe ihrer bei Flugzeugabstürzen ums Leben gekommenen Onkels vermachen wollen.
Als ich vor zwei Wochen wieder solche Post erhielt
dachte ich, sooli, und stellte die Mails auf Facebook. Dazu schrieb ich:
„Hallo, Marilyn, hallo, Beryl
Danke für eure Anfragen. Selbstverständlich gelten für euch dieselben Regeln wie für alle anderen. Das heisst: Wer mir am Telefon eher das ‚Totemügerli‘ aufsagt, kommt in die nächste Runde. Dafür haben sich schon Janice, Bree, Mariella, Adrienne, Mandy und Vreni qualifiziert. Die dann wartende Aufgabe behalte ich noch für mich; als Stichwort muss ‚Alperose‘ genügen. Eine Bewerberin steigt mit einem kleinen Vorteil ins Viertelfinale, aber ich sage nicht, welche.“
Kaum war der Text samt den Bildern online, wurde er – von einer Frau – mit einem ???? kommentiert. Minuten später war er von der Seite verschwunden.
Mein erster Gedanke war: „Zensur“. Also wuchtete ich meine Trychle aus dem Schrank und drehte mit ihr, „Liberté! Liberté!“ brüllend, ein paar Runden um den Hotelpool. Die verblüfften Blicke der Umliegenden entgingen mir natürlich nicht, nur: Die Leute, die sich am Schwimmbecken in aller Unbeschwertheit medium garen lassen, haben ja keine Ahnung davon, wie es sich anfühlt, in einer Diktatur zu leben.
Dann überkam mich ein Verdacht: Wurde ich verraten? Sollte es unter meinen 600 handverlesenen „Freundinnen“ und „Freunden“ jemanden geben, der oder die den Beitrag als dermassen daneben empfunden haben könnte, dass er (oder sie) ihn Facebook meldete in der Hoffnung darauf, dass der Konzern ihn löschen würde?
Ich ging die Liste im Kopf durch und stiess auf zwei Verdächtige. Falls einer oder eine von ihnen tatsächlich für diese Aktion verantwortlich sein sollte, hätte es sich um einen Angriff auf mein ureigenstes Hoheitsgebiet gehandelt, der für ihn oder sie schlimme Konsequenzen haben könnte, wenn nicht sogar: haben müsste.
Nach etwelchem Nachdenken beschloss ich jedoch, von einem Gegenschlag abzusehen: Wer so humorfrei durchs Leben gehen muss, ist bestraft genug.
Nun – ich hatte die Sache schon fast vergessen – teilte mir Facebook mit, inwiefern ich mich gegenüber der Familie versündigt habe. Von „Sicherheitsverletzungen“ ist die Schreibe, und von „Betrug“.
Eine Nummer kleiner gehts für die Wächter über eine Community, die sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt hat, dass die Welt aus herzigen Kätzchen und atemberaubenden Sonnenuntergängen besteht und dass es gegen sämtliche Unbilden des Daseins ein aufmunterndes Kalendersprüchli gibt, nicht:
Selbstverständlich, fügte Facebook an, könne ich diese Entscheidung anfechten. Allzugrosse Hoffnungen auf eine zügige Behandlung meines Rekurses soll ich mir allerdings nicht machen:
Ob das „Review-Team“ von sich aus eingeschritten oder aufgrund einer Beschwerde aus meiner Leserschaft aktiv geworden war, ist der Nachricht nicht zu entnehmen.
Ich habe aber gewisse Zweifel daran, dass es im kalifornischen Menlo Park sehr viele Leute gibt, die sich dafür interessieren, was ich auf Facebook treibe.
Ich wollte mich gerade schlafenlegen, als ich an der Zimmertüre ein leises Klopfen hörte. Davor stand ein alter Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Er trug eine abgewetzte Latzhose und ein vergilbtes T-Shirt der Rolling Stones-Tour 1982.
Der Fremde sah aus, als ob er seit Jahren kein Sonnenlicht mehr gesehen hätte, und wirkte sehr, sehr müde. Ich bat ihn herein.
Er heisse Max, sagte er, während er sich aufs Sofa setzte, und arbeite im Maschinenraum meines Blogs. Dort sei er für das Zählen der Klicks verantwortlich. Jedesmal, wenn jemand einen Beitrag lese, mache er auf einem Formular ein Strichli.
„Das wusste ich nicht“, sagte ich. „Ich dachte, das gehe automatisch.“
„Chasch dänke. Das ist noch gutes, altes Handwerk.“
„Schön, eigentlich…“
„…ja, klar. Es ist einfach so…es ist einfach so, dass ich dir schon lange etwas sagen müsste, aber ich weiss nicht recht, wie ichs dir sagen soll.“
„Sags einfach“, ermunterte ich ihn, während ich das braune Pulver im Tassli mit Wasser übergoss.
Hinter mir atmete Max tief ein und aus. Dann sagte er: „Ich habe fast nichts mehr zu tun.“
„Wie, ‚fast nichts mehr zu tun‘?“, fragte ich, und stellte ihm das Kafi auf den Tisch.
Süüferli nahm Max einen Schluck von dem siedendheissen Gebräu.
„Mir geht die Arbeit aus.“
„?“
„Niemand liest mehr dein Zeug. Oder fast niemand.“
„Das heisst?“
„Ich muss ein bisschen ausholen“, sagte Max.
„Mach nur.“
„Also: Als du vor ungefähr 15 Jahren damit anfingst, Texte in diesem Blog zu veröffentlichen, hattest du jeden Tag 50 bis 80 Leserinnen und Leser.“
„Aha.“
„Im Lauf der Zeit bildete sich eine Art Stammpublikum. Es umfasste zwischen 300 und 500 Leuten.“
„Potz.“
„Ja. Und dann, als du mal auf den Kanaren warst, machtest du eine Serie. Es ging um den Playaboy. In diesen Wochen kam ich mit dem Strichlimachen nicht mehr nach. Manchmal mussten mir meine Nichte und mein Neffe helfen. 1000, 1200, 1800…es war verrückt.“
„Aber dann…“
„Nichts ‚aber dann‘. Die Zahlen gingen wieder zurück, auf ungefähr 600 pro Tag, doch das war für mich kein Grund zum Nervöswerden.“
Ich sah immer noch nicht, wo Max‘ Problem lag, und beschloss, ihn einfach weiterreden zu lassen. Was auch immer er sagte: Es schien ihm gutzutun, überhaupt wieder einmal mit jemandem sprechen zu können.
„Auch nach dieser Playaboysache hatte ich manchmal einen Höllenstress“, fuhr er fort. „Als du über den Betriebsausflug von Hofstetter, Hofstetter & Hofstetter berichtetest zum Beispiel, oder wegen des Lockdown-Tagebuchs, oder während der Rosmarinaffäre. Wenn du damals für jeden Klick 50 Rappen erhalten hättest, könntest du dir auf deiner Insel ein Häuschen kaufen, mit Pool und allem. Mein Neffe und meine Nichte hatten bei mir unten soviel zu tun, dass sie nicht mehr zur Schule gehen konnten.“
„Wieso sagtest du denn vorhin, niemand lese mein Zeug?“
„Weil es so ist.“
„600 Leserinnen und Leser sind doch nicht niemand.“
„Ich kann nicht genau sagen, wann es begann. Jedenfalls begannen sie Zahlen zwischen den letzten beiden Coronawellen zu sinken. Das taten sie erst nur ganz langsam, so dass ich es beinahe nicht merkte, aber dann immer schneller.“
„Wieviele Strichli machst du heute, durchschnittlich?“
„Mehr als 40 oder 50 sinds selten.“
„Hm.“
„Das kannst du laut sagen.“
„HM!“
„Das ist nicht lustig.“
„…“
„Ist doch wahr.“
„Woran liegt das, deiner Meinung nach?“
Umständlich zog Max ein zerknülltes Papier aus seiner hinteren linken Hosentasche. Er legte es auf den Tisch und strich es mit seinen knorrigen Händen so gut es ging glatt.
„Schau mal: Hier“ – er zeigte auf den 24. Februar – „überfiel Putin die Ukraine.“
„Und das hat mit diesem Blog insofern etwas zu tun, als…“
„Ich glaube, die Leute mögen nach zwei Jahren Corona und wegen dieses Krieges nicht mehr lesen.“
„Der Krieg ist hier aber höchstens ein Randthema“.
„Darum gehts nicht. Sie wollen überhaupt nichts mehr lesen.“
„?“
„Auf die Menschen prasselt aus dem Fernsehen, dem Radio, dem Internet und den Zeitungen rund um die Uhr eine so grosse Zahl von Nachrichten ein, dass sie damit gar nicht mehr z Schlag kommen. Diese Flut überfordert sie total, weil es immer um Leben und Tod geht. Die Dauerbeschäftigung mit dem kaputten Klima, dem Virus und der Frage, ob demnächst Atomwaffen abgeschossen werden, frustriert sie mit der Zeit, und macht ihnen Angst. Deshalb lesen, schauen und hören sie nur noch das Nötigste.“
„Sie lesen nicht mehr, weil sie zuviel zum Lesen haben.“
„Das kann man glaub so sagen, ja.“
„Phuuu.“
„Sag nichts.“
„Was meinst du: Ändert sich das wieder?“
„Ich habe keine Ahnung. Ich mache ja nur die Strichli.“
„Oder eben nicht.“
„Ja, oder eben nicht.“
„…“
„Und jetzt?“
„Gute Frage.“
„Ich weiss wirklich nicht…“
„Ist ausser dir noch jemand im Keller?“
„Nein.“
„Hast du den Schlüssel bei dir?“
„Selbstverständlich!“
„Also gut. Dann gehst du jetzt runter, schliesst ab, bringst mir den Schlüssel und gehst nach Hause.“
„Aberaber…was ist mit den Strichli?“
„Welche Strichli?“
„Wie gesagt: Das ist nicht lustig!“
„Entschuldige.“
„Ist das eine…hast du mir jetzt gerade…ich meine…“
„…nein, das ist keine Kündigung, lieber Max. Mach einfach mal Pause. Du hast sie dir nach all den Jahren mehr als verdient.“
„Wann soll ich…“
„…irgendwann. Es spielt keine Rolle.“
„Und was machst du?“
„Weiterschreiben. Grad äxtra.“
„Gibst du mir Bescheid, wenn du…“
„…aber klar doch!“
„Nicht, dass du plötzlich einen anderen…“
„…wo denkst du hin!“
„Und du bist sicher, dass es auch ohne meine Strichli…“
„Wenn es noch etwas gibt, worüber ich mir ganz sicher bin, dann ist es das.“