Lustige Weiber aus der Agglo Windsor

Erst hört man das Zähneklappern der Mitarbeiter an der Rezeption und der Bar, dann das Rattern von Rollkoffern und zack: hat ein neues Rudel von Engländerinnen das Hotel geentert, um es nach zwei Jahren der mannigfaltigen Entsagungen mal wieder so fuckin‘ richtig krachen zu lassen.

Noch vor dem Zimmerbezug besetzen sie das Openairbeizli. Dort läuten den Ferienbeginn mit ein paar Bier, einem halben Dutzend Gläsern Weisswein und viel, viel Sangria ein.

Zwei Stunden später haben ihre Promillepegel Höhen erklommen, in denen für die Neuzuzügerinnen ideale Lebensbedingungen herrschen, die allen anderen Gästen aber Nahtoderfahrungen bescheren würden.

Die Tage verbringen sie fortan am Pool. Ihr Teint wechselt zügig von Camambert zu Hummer.

Um 22 Uhr herum verraten jeweils knallende Türen und lautes Gegacker, dass sie sich ins Nachtleben stürzen (Tenü, einheitlich: zu knappes T-Shirt in Knallbunt und zu kurzer Jupe. Brille: pink oder hellgrün. Schuhe: orthopädenfreundlich. Frisur: an Vogelnester gemahnend).

Dieses endet kurz vor Sonnenaufgang und damit, dass die Damen – nicht selten mit Herren im Abschlepptau, die nicht zur Hotelgaschtig gehören – sich so diskret, wies den Umständen entsprechend halt noch geht, in ihre Gemächer zurückzuziehen, allwo sie sich bis weit nach Mittag von ihren strapaziösen Streifzügen durch die Clubs von Playa del Inglés erholen oder sich sonstwie beschäftigen.

All jene, deren Staatsoberhaupt nicht Elisabeth heisst, beobachten diese Umtriebe mit einer Mischung aus Verwunderung und Faszination und nationenübergreifend vereint im Frohsein darüber, das alles längst hinter sich zu haben.

Aus den Augen, aus dem Trübsinn

In meinem Zimmer liegt ein Magazin, das die Greatest Hits von Gran Canaria in Wort und Bild präsentiert. Ich blättere gerne darin: Eine Zeitung lesen zu können ohne Gefahr zu laufen, über Beiträge zu den Themen „Corona“ oder „Ukraine“ zu stolpern, tut gut.

Natürlich ist das eine Realitätsflucht in den Bunker des Selbstbetrugs. Das Virus zirkuliert unabhängig davon, ob ich das Heft studiere, und höchstwahrscheinlich stoppt Wladimir Putin seine Kampfhandlungen nicht in dem Moment, in dem er von seinen Geheimdienstlern erfährt, dass ich nicht rund um die Uhr mitverfolge, was darüber geschrieben und gesendet wird.

Aber: beim Abstandhalten hilft es enorm.

Die radikale Einschränkung des Medienkonsums hat sich für mich in den letzten Tagen als wirkungsvolles Mittel gegen den Dauertrübsinn erwiesen. Am Morgen schaue ich in zwei, drei Onlinemedien meines Vertrauens nach, was in der Nacht gelaufen ist.

12 Stunden später informiere ich mich mit dem ARD-„Brennpunkt“ über die Ereignisse des Tages. Die Zeit dazwischen nutze ich, um zu tun, was ich schon vor Putins Angriff getan habe und auch nach dem Krieg zu tun gedenke: (m)ein ganz normales Leben zu führen.

Das schliesst eine Beschäftigung mit der Frage, ob die Migros und Coop Waren russischer Provenienz aus dem Sortiment nehmen müssen, ebenso aus wie ein Nachdenken darüber, ob Gerhard Schröder Ehrenbürger von Hannover bleiben soll.

Das klingt ist sehr egoistisch, klar. Aber ein wenig Selbstschutz vor den ununterbrochen darniederprasselnden Negativnachrichten muss sein. Sonst rastet der Frust über das seit mindestens zwei Jahren gründlich Schieflaufen der Dinge plötzlich dauerhaft ein.

Abgesehen davon: Wenn die Menschen vor lauter Schreckensmeldungen aus der Ukraine reihenweise physisch schlappmachen, hat niemand etwas davon – ausser jenem Zeitgenossen natürlich, welcher sie ausgelöst hat.

***

Lesetipp: „Gegen die Angst“ – ein Kommentar in der „Süddeutschen“ vom 3. März 2022. Er richtet sich eigentlich an die Menschen in Deutschland, tatsächlich aber an alle.

So oder so

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Was während der Pandemie galt (wir erinnern uns dunkel: ein Virus. Millionen von Toten. Unsägliches Leid wegen Masken und Zertifikaten), gilt beim Krieg in der Ukraine erst recht: Gut, gibt es Fachleute, die immer alles einordnen können, und toll, gibt es Medien wie „Spiegel Online“, die sie noch so gerne zu Wort kommen lassen – bei Bedarf auch am selben Tag auf derselben Seite (siehe oben).

Sowie Journalisten, die an ihren Schreibtischen auch im unübersichtlichsten Schlachtengetümmel den Durchblick behalten. Einer von ihnen ist Michael Thumann. Er analysiert in der „Zeit“: „Dass Putin die Gefechtsbereitschaft der Atomwaffen angeordnet hat, könnte ihren Einsatz bedeuten – muss es aber nicht.“

Die Frage ist: Wer war zuerst da? Das Huhn (die Medien) oder das Ei (die Experten)?

Die Antwort lautet: das Huhn.

Bis gegen Ende des letzten Jahrtausends war es den Journalistinnen und Journalisten vorbehalten, ihrer Kundschaft die Welt zu erklären. Dann kam das Internet – und plötzlich hatten die Leserinnen und Leser die Gelegenheit, zu überprüfen, ob das, was ihnen ihre Zeitung – und später deren Onlineportal – vorsetzte, stimmt.

Konnte der Redaktor bisher einfach schreiben, die Natronlauge, die aus einer nahegelegenen Fabrik in den Dorfbach geflossen war, sei giftig, benötigte er nun einen Fachmann, der das bestätigte. Also rief er einen Chemiker an. Erst, wenn dieser sagte, Natronlauge sei giftig, konnte der Journalist wie geplant titeln: „Gift im Trinkwasser“.

Es dauerte nicht allzulange, bis zu fast jedem Thema Expertenwissen gefragt war. Für die Medienschaffenden war das insofern gäbig, als sie sich zeitaufwändige Recherchen nun sparen konnten: ein Anruf bei einem Psychologen oder eine Mail an den Kantonsarzt genügte, und schon hatte die Geschichte Hand und Fuss.

Manche Experten realisierten, dass von dieser Vorgehensweise auch sie profitieren konnten. Je häufiger sie zitiert wurden, desto mehr stieg ihre Bekanntheit. Wer sich mündlich oder vor einer Kamera gut präsentieren konnte, galt schnell als Koryphäe auf seinem Gebiet.

Ein Beispiel von vielen ist Daniel Jositsch. Er hatte in Zürich jahrelang weitgehend anonym als Anwalt gearbeitet. Irgendwann tauchte er im Rahmen einer Serie über spektakuläre Verbrechen als „Strafrechtsexperte“ im Schweizer Fernsehen auf. Von da an gab es kein Halten mehr: Sobald sich irgendwo ein juristisches Problem stellte, wurde Jositsch um eine Einschätzung gebeten.

Mit dem Coronavirus schoss das Expertentum ins Kraut: Nach dem Motto „Es ist zwar längst alles gesagt, aber noch nicht von jedem“ verging während der Pandemie kein Halbtag, an dem sich nicht ein Virologe oder eine Epidemiologin zum aktuellen oder möglicherweise zu erwartenden Stand der Dinge geäussert hätte.

Dasselbe passiert jetzt, beim Krieg in der Ukraine, erneut, und in einem Masse, das in dieser Intensität selbst auf dem Höhepunkt der Covidkrise undenkbar erschienen wäre: Ex-Militärs räsonieren über Truppenbewegungen und Atomwaffenziele. Friedensforscher versuchen, diplomatische Wege aus dem Krieg zu weisen. Ehemalige Politikerinnen und Politiker erläutern, dass im Umgang mit Russland im Allgemeinen und Wladimir Putin im Besonderen vieles versäumt und verbockt worden sei (aber nie unter ihrer Regie).

Es ist paradox: Experten, sollte man meinen, müssen Laien auch hochkomplexe Vorgänge und Zusammenhänge anschaulich erklären können. Stattdessen machen sie die Lage für Leute, die mit der Materie bestenfalls rudimentär vertraut sind, durch ihre inflationären Auftritte immer verworrenener.

Entsprechend sinkt – sicher nicht nur bei mir – die Bereitschaft, ihnen zuzuhören. Und, vielleicht schlimmer noch: das Vertrauen. Jenes in die Profis, die sich bisweilen im Minutentakt widersprechen, genauso wie jenes in die Medien, welche ihnen immer und immer wieder eine Plattform bieten, auf der sie ihre Theorien – und um mehr handelt es sich in den seltensten Fällen – vor einem eigentlich durchaus interessierten Publikum auszubreiten.

***

(Lesetipp: „Im Zeitalter des atemlosen Instantjournalismus, von dem mit der Nachricht auch zeitgleich die Analyse erwartet wird, ist Ratlosigkeit Gift“, schreibt das Redaktionsnetzwerk Deutschland.)

Der Zeit voraus

Mit tiefschürfenden Texten brillierten die Melodic-Rocker von Barclay James Harvest nur selten. Was sie 1987 in „Kiev“ sangen, hatte allerdings schon fast etwas Prophetisches:

„My friends it’s not what you were famous for.
But now the whole world’s watching you.
If we could help you then you know we would
but we don’t know just what to do.
Eye to eye our ways are not the same.
We never tried to understand.
But it could pass to each of us you name.
Then who’s the one to take the blame.

Kiev, a candle with a flame.
You’ll never be the same.
Our hearts go out to you
and what you’re going through.
They’ve thrown away your past
just like an empty glass
into the fire.

Someone wiser took the Steppe from you.
I’m sure with reason it was right.
But now it seems the whole world’s blaming you
and who’s the one to put things right.

Kiev, a candle with a flame.
You’ll never be the same.
Our hearts go out to you
and what you’re going through.
They’ve thrown away your past
Just like an empty glass.
Into the fire.

Kiev, a candle with a flame.
You’ll never be the same.
We all will understand
you’re really not to blame.
They’ve thrown away your past
just like an empty glass
Into the fire.“

Verklärte Vergangenheit

In den 80er-Jahren des letzten Jahrtausends: Kalter Krieg. Hungersnot in Äthiopien. Erster Golfkrieg. „Challenger“-Explosion. Reagan-Attentat. Aids. Schweizerhalle. Papst-Attentat. Falklandkrieg. Lockerbie. Tschernobyl.

Die Leute dachten: In den 70ern (Vietnam. Geiselnahme an den Olympischen Spielen in München. Ölkrise. Watergate. Mordserie der Roten Armee Fraktion.) fühlte sich das Leben besser an.

In den 90er-Jahren des letzten Jahrtausends: Zweiter Golfkrieg. Völkermord in Ruanda. Srebrenica. Oklahoma. Mogadischu. Untergang der „Estonia“. Erster Anschlag auf das World Trade Center. Amoklauf an der Columbine Highschool.

Die Leute dachten: In den 80ern fühlte sich das Leben besser an.

2000-2010: Attentat von Zug. Flammeninferno im Gotthard-Tunnel. 9/11. Afghanistankrieg. Wirtschaftskrise. Tsunami. Irakkrieg. Swissair-Grounding. Hitzewelle in Europa. Hurrikan Katrina. Erdbeben in Sichuan.

Die Leute dachten: In den 90ern fühlte sich das Leben besser an.

2011-2020: Griechenland, Spanien und Italien am Abgrund. Fukushima. Terrorattacken in Frankreich, Grossbritannien, Belgien, Spanien, Dänemark und Deutschland. Ebola. Germanwings. Flüchtlingskrise. Dürrewellen in Europa.

Die Leute dachten: Zu Beginn dieses Jahrtausends fühlte sich das Leben besser an.

2020 und 2021: SARS-CoV-2.

Die Leute dachten: In den letzten 10 Jahren fühlte sich das Leben besser an.

2022: Wladimir Putin überfällt die Ukraine.

Die Leute denken: In den letzten Jahren fühlte sich das Leben besser an.

Wieso empfindet der Mensch Zurückliegendes – vermutlich seit Anbeginn der Zeit – als besser als die Gegenwart, obwohl ihm klar sein muss, dass das nicht stimmt?

In Studien untersuchten Forscher das Phänomen der sogenannten „Rosige Vergangenheit-Verzerrung“. Dabei wiesen sie nach, dass die Probanden grundsätzlich dazu neigten, Erlebnisse im Nachhinein als interessanter zu verklären, als sie es tatsächlich waren.

Obwohl bei ihren Aktivitäten (Ferien, Reisen und so weiter) nicht nur Schönes passierte, hatten sie die unguten Gefühle, die damit verbunden gewesen waren, schnell vergessen. Laut den Forschern hat dies mit der „Sehnsucht nach einer vermeintlich grossartigen Vergangenheit“ zu tun, wie der „Spiegel“ resümierte.

Die Affinität für Nostalgie und falsche Erinnerungen würden bei über 40-jährigen Menschen zunehmen, heisst es in dem Artikel: „Verzerrungen und Verklärungen werden immer wahrscheinlicher.“ Dabei entgehe uns, „wie fehlerhaft unser emotionales Gedächtnis arbeitet“. Wir hätten „ein übermässiges Selbstvertrauen in die Zuverlässigkeit unserer Erinnerungen“, was dazu führe, dass „wir meinen zu wissen, wie grossartig die Vergangenheit war“.

Diese Studien bedürfen nun einer Überarbeitung. Dass jemand das Jahr 2022 dereinst als besser als die Gegenwart bezeichnen wird, ist schwer vorstellbar. Denn die von Putin erzwungene Zeitenwende spielt sich nicht nur auf dem politischen, militärischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Parkett ab, sondern auch in unseren Köpfen und Gemütern.

Sie zwingt uns, vermeintliche Gewissheiten zu hinterfragen, liebgewonnene Gewohnheiten zu überdenken und verkrustete Strukturen zu revidieren. Das führt – wie schon beim Kampf gegen Corona – zu verblüffenden Resultaten: Abgesehen von ihren Artgenossen in der Schweiz sind die Amtsschimmel in ganz Europa und in den USA über Nacht vom trägen Trab in den gestreckten Galopp übergegangen. Benötigte die EU eben noch Jahre, bis ihre Mitglieder sich auf einheitliche Masse von, sagen wir, Rüebli, einigen konnten, beschloss sie nun innerthalb weniger Stunden schärfste Sanktionen gegen Russland.

Nationen, die bis Mitte Februar kaum etwas miteinander zu tun hatten, stellen sich Putin Schulter an Schulter entgegen. Länder, die zu Fremden seit jeher ein distanziertes Verhältnis pflegten, nehmen mit grösster Selbstverständlichkeit Tausende und Abertausende von Flüchtlingen auf. Die Hilfsbereitschaft ist rund um den Globus immens und unabhängig davon, ob Deutschland 500 Boden-Luft-Raketen oder eine Familie 500 Franken in die Ukraine schickt.

Die Menschen rücken grenzübergreifend zusammen. Wer trotz Covid-19 nicht realisiert hat, wie dünn das Eis ist, auf dem er sich mit seinem Wohlstand, seinen Wünschen, seinen Plänen und seinen Hoffnungen weitgehend frei von Demut bewegt, spürt es jetzt. Das schmerzt und macht Angst, kann aber nicht schaden.

Auch wenn derlei Überlegungen nur am Anfang einer neuerlichen rosigen Vergangenheitsverzerrung stehen sollten: Sie machen es doch möglich, selbst diesen Tagen ein bisschen etwas Gutes abzugewinnen.