Verklärte Vergangenheit

In den 80er-Jahren des letzten Jahrtausends: Kalter Krieg. Hungersnot in Äthiopien. Erster Golfkrieg. „Challenger“-Explosion. Reagan-Attentat. Aids. Schweizerhalle. Papst-Attentat. Falklandkrieg. Lockerbie. Tschernobyl.

Die Leute dachten: In den 70ern (Vietnam. Geiselnahme an den Olympischen Spielen in München. Ölkrise. Watergate. Mordserie der Roten Armee Fraktion.) fühlte sich das Leben besser an.

In den 90er-Jahren des letzten Jahrtausends: Zweiter Golfkrieg. Völkermord in Ruanda. Srebrenica. Oklahoma. Mogadischu. Untergang der „Estonia“. Erster Anschlag auf das World Trade Center. Amoklauf an der Columbine Highschool.

Die Leute dachten: In den 80ern fühlte sich das Leben besser an.

2000-2010: Attentat von Zug. Flammeninferno im Gotthard-Tunnel. 9/11. Afghanistankrieg. Wirtschaftskrise. Tsunami. Irakkrieg. Swissair-Grounding. Hitzewelle in Europa. Hurrikan Katrina. Erdbeben in Sichuan.

Die Leute dachten: In den 90ern fühlte sich das Leben besser an.

2011-2020: Griechenland, Spanien und Italien am Abgrund. Fukushima. Terrorattacken in Frankreich, Grossbritannien, Belgien, Spanien, Dänemark und Deutschland. Ebola. Germanwings. Flüchtlingskrise. Dürrewellen in Europa.

Die Leute dachten: Zu Beginn dieses Jahrtausends fühlte sich das Leben besser an.

2020 und 2021: SARS-CoV-2.

Die Leute dachten: In den letzten 10 Jahren fühlte sich das Leben besser an.

2022: Wladimir Putin überfällt die Ukraine.

Die Leute denken: In den letzten Jahren fühlte sich das Leben besser an.

Wieso empfindet der Mensch Zurückliegendes – vermutlich seit Anbeginn der Zeit – als besser als die Gegenwart, obwohl ihm klar sein muss, dass das nicht stimmt?

In Studien untersuchten Forscher das Phänomen der sogenannten „Rosige Vergangenheit-Verzerrung“. Dabei wiesen sie nach, dass die Probanden grundsätzlich dazu neigten, Erlebnisse im Nachhinein als interessanter zu verklären, als sie es tatsächlich waren.

Obwohl bei ihren Aktivitäten (Ferien, Reisen und so weiter) nicht nur Schönes passierte, hatten sie die unguten Gefühle, die damit verbunden gewesen waren, schnell vergessen. Laut den Forschern hat dies mit der „Sehnsucht nach einer vermeintlich grossartigen Vergangenheit“ zu tun, wie der „Spiegel“ resümierte.

Die Affinität für Nostalgie und falsche Erinnerungen würden bei über 40-jährigen Menschen zunehmen, heisst es in dem Artikel: „Verzerrungen und Verklärungen werden immer wahrscheinlicher.“ Dabei entgehe uns, „wie fehlerhaft unser emotionales Gedächtnis arbeitet“. Wir hätten „ein übermässiges Selbstvertrauen in die Zuverlässigkeit unserer Erinnerungen“, was dazu führe, dass „wir meinen zu wissen, wie grossartig die Vergangenheit war“.

Diese Studien bedürfen nun einer Überarbeitung. Dass jemand das Jahr 2022 dereinst als besser als die Gegenwart bezeichnen wird, ist schwer vorstellbar. Denn die von Putin erzwungene Zeitenwende spielt sich nicht nur auf dem politischen, militärischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Parkett ab, sondern auch in unseren Köpfen und Gemütern.

Sie zwingt uns, vermeintliche Gewissheiten zu hinterfragen, liebgewonnene Gewohnheiten zu überdenken und verkrustete Strukturen zu revidieren. Das führt – wie schon beim Kampf gegen Corona – zu verblüffenden Resultaten: Abgesehen von ihren Artgenossen in der Schweiz sind die Amtsschimmel in ganz Europa und in den USA über Nacht vom trägen Trab in den gestreckten Galopp übergegangen. Benötigte die EU eben noch Jahre, bis ihre Mitglieder sich auf einheitliche Masse von, sagen wir, Rüebli, einigen konnten, beschloss sie nun innerthalb weniger Stunden schärfste Sanktionen gegen Russland.

Nationen, die bis Mitte Februar kaum etwas miteinander zu tun hatten, stellen sich Putin Schulter an Schulter entgegen. Länder, die zu Fremden seit jeher ein distanziertes Verhältnis pflegten, nehmen mit grösster Selbstverständlichkeit Tausende und Abertausende von Flüchtlingen auf. Die Hilfsbereitschaft ist rund um den Globus immens und unabhängig davon, ob Deutschland 500 Boden-Luft-Raketen oder eine Familie 500 Franken in die Ukraine schickt.

Die Menschen rücken grenzübergreifend zusammen. Wer trotz Covid-19 nicht realisiert hat, wie dünn das Eis ist, auf dem er sich mit seinem Wohlstand, seinen Wünschen, seinen Plänen und seinen Hoffnungen weitgehend frei von Demut bewegt, spürt es jetzt. Das schmerzt und macht Angst, kann aber nicht schaden.

Auch wenn derlei Überlegungen nur am Anfang einer neuerlichen rosigen Vergangenheitsverzerrung stehen sollten: Sie machen es doch möglich, selbst diesen Tagen ein bisschen etwas Gutes abzugewinnen.

Paar, verhalten

Immer, wenn ich mich im Poolbeizli unten von der Plackerei in meinem Büro entspannte, waren sie auch da: eine Frau und ein Mann mittleren Alters verbrachten mehr oder weniger ihre ganzen Ferien am gleichen Tisch. Sie las schweigend, er hörte stumm Musik. Irgendwie schien die interne Kommunikation aber trotzdem zu funktionieren: Wenn sie sich ein Kafi holte, brachte sie ihm ein Bier mit, wenn er sein Glas nachfüllen ging, bestellte er für sie ein Glas Mineralwasser.

Gestern reisten die beiden ab. Von meinem Balkon aus sah ich, wie sie mit ihren Koffern vor dem Hotel standen. Angeregt miteinander plaudernd warteten sie auf den Bus.

Zwischen Pool und Putin

Wir erinnern uns: Wer während der Corona-Pandemie auch nur erwog, hinter die eine oder andere Virenbekämpfungsmassnahme ein Fragezeichen zu setzen, wurde von jenen, die jede Vorschrift des Bundesrates mit einem ???? quittierten, als „Covidiot“ abgestempelt.

Das war gäbig: Mit Covidioten und deren Argumenten brauchte man sich als aufgeklärter Bürger und den Durchblick habende Bürgerin nicht auseinanderzusetzen. Die Standardbegründung lautete entweder, „auf dieses Diskussionsniveau lasse ich mich nicht hinunter“ oder/und, „das ist mir zu blöd“.

Jetzt, wo wir chäfermässig das Gröbste scheints überstanden haben, wäre vielleicht keine schlechte Gelegenheit, diese Markierungen nadisna zu entfernen. Das würde hüben und drüben die Bereitschaft voraussetzen, ein paar Schritte über den eigenen Schatten hinweg aufeinander zuzugehen. Mit chly gutem Willen, denkt man, sollte das in einer Zivilisation, in der am Ende ja doch alle aufeinander angewiesen sind, zu schaffen sein.

Stattdessen druckt man neue Etiketten mit der Aufschrift „Putinversteher“. Sie dienen der Ächtung von Zeitgenossinnen und -nossen, die es wagen, sich zustimmend oder, eben, verständnisvoll zu den Positionen der russischen Seite im Krieg gegen die Ukraine zu äussern.

Sich von dieser Gruppe zu distanzieren, ist allerdings kein Problem: eine Friedenstaube im Facebook-Profilbild oder eine gelb-blaue Krawatte am Bürokleiderhaken genügt.

Lieber spät als nie zur Besinnung gekommene Covidiotinnen und -idioten müssen sich schon mehr anstrengen, wenn sie in die *räusper* normale Gesellschaft zurückkehren wollen: ohne Zertifikat, das ihnen mindestens zwei Impfungen attestiert, und einer persönlich signierten Autogrammkarte von Alain Berset in der Hand brauchen sie gar nicht erst an deren Türe zu klopfen.

Offenbar braucht der Mensch mehr denn je Schubladen, um das für ihn Gute und Böse auf Anhieb trennen zu können. So darf er sich jederzeit sicher sein, auf der richtigen Seite zu stehen. Angesichts einer sich zunehmend verkomplizierenden Weltordnung liegt diese Denkweise nahe.

Sie trägt jedoch nur wenig zur – allgemein ersehnten – Entspannung jener Lage bei, welcher sie entspringt.

***

Das nennt man wohl Express-Schockbewältigung: Nachdem russische Truppen die Ukraine überfallen hatten, wirkten viele Fremde und Einheimische in meinem Hotel, im Supermarkt gegenüber und im nahen Restaurant wie betäubt. Tags darauf war das Entsetzen verflogen.

Völlig losgelöst von Gedanken daran, was sich zum Teil sehr nahe an den Grenzen zu ihrer Heimat abspielt, geniessen die Gäste ihre Ferien. Selig sünnelen sie am Pool, lachend höcklen sie beisammen, lustvoll holen zwei von ihnen im Zimmer 711 in diesem Moment nach, was ihnen durch Isolationen, Social Distancing und Heimunterricht seit Anfang 2020 versagt geblieben sein muss.

Diese Nonchalance kann, wer sich wirklich Mühe gibt, ein Stück weit nachvollziehen: All diese Leute flogen nach Gran Canaria, um zum ersten Mal seit Langem wieder einen Hauch Freiheit zu erleben – unter was für einer Unfreiheit auch immer sie gelitten haben mögen -, und nicht, um sich die Köpfe schon wieder wegen einer Grosskrise zu zerbrechen, bei der sowieso kein Mensch drauskommt (abgesehen von den zig Millionen von Youtube-Experten natürlich, die sich auf dem Feld der Geopolitik und in den Plänen der Militärstrategen bereits ebensogut auskennen wie soeben noch auf dem Terrain der Epidemiologie).

Zwei Jahre lang mussten sie aus Rücksicht auf ihre Mitbürgerinnen und -bürger mit unsäglichen Einschränkungen leben. Nun dürfen sie endlich wieder einmal etwas für sich tun.

Ziemlich fertig lustig

Normalerweise sitzen und liegen hier aufgestellte Leute. Sie nippen an Sangrias und geniessen das unbeschwerte Leben auf der Insel. Gestern wars in der Lounge jedoch sehr, sehr ruhig.

Der Krieg in der Ukraine wirft seine Schatten auch auf die Sonneninsel Gran Canaria. Die südländische Entspanntheit, die das Leben hier soeben noch prägte, ist buchstäblich über Nacht weitgehend verflogen.

Fünf Stockwerke unter meinem Zimmer hörte ich die Gäste im Poolbereich immer reden und lachen und planschen. Dieser Geräuschteppich fehlte gestern. Die wenigen Leute, die sich am Schwimmbecken und im Openairbeizli tummelten, starrten stundenlang stumm auf ihre Handys.

Einige von ihnen sind von den Ereignissen direkt betroffen: Die Touristinnen und Touristen aus Polen, Litauen und Estland haben keine Ahnung, was sie bei der Rückkehr in ihre an das Kriegsgebiet grenzende Heimat erwartet.

Mehrere Hotelmitarbeitende grüssten – bewusst oder unbewusst – nicht mehr mit einem locker-lässigen „¡Hola!“, sondern mit dem etwas formelleren „buenos dias“. Allenthalben – zum Beispiel auch im Supermarkt nebenan und im Restaurant gegenüber – machte sich eine zu diesem Umfeld völlig unpassende Ernsthaftigkeit breit.

Weil ich keinerlei Lust darauf verspürte, etwas zu schreiben (das ist mir in den letzten 56 Jahren genau einmal passiert), verbrachte ich den Abend fernsehend im Bett. Auf den Kanälen, die ich hier empfangen kann, folgte eine Ukraine-Sondersendung der nächsten.

Politikerinnen und Politiker aus den unterschiedlichsten Lagern, Militärexperten und Wirtschaftsfachleute versuchten in Reportagen, Interviews und Talkshows zu erklären, was nicht zu erklären ist. Ihre Rat- und Hilflosigkeit war beinahe greifbar.

Am meisten imponierte mir Kevin Kühnert, der Generalsekretär der deutschen SP. Er sagte bei „Maischberger“ in aller Offenheit, er tue sich „am heutigen Tag schwer damit, mich mal schnell ins Fernsehen zu setzen und drei steile Thesen rauszuhauen, wie man damit jetzt richtigerweise umgehen sollte. Ich glaube, wir tasten uns alle notwendigerweise voran.“

Während ich das Geschehen auf dem Bildschirm mit derselben seltsamen Faszination verfolgte, mit der man – auch widerwillig – einen Unfallplatz auf der Autobahn betrachtet, teilte ich einem lieben Menschen mit, dass ich gerade eine Politsendung nach der anderen schaue. Daraufhin kam es zu einem kurzen Dialog, der für mich 24 Stunden zuvor undenkbar gewesen wäre:

Irgendwann fiel mir auf, wie ruhig es draussen war: kein Gehupe, kein Gejohle, kein gar nichts. Als ich auf den Balkon hinausging, hatte ich eine Art Flashback: Vor genau einem Jahr wirkten die Strassen von Playa del Inglés wegen der nächtlichen Corona-Ausgangssperre genauso tot.

Dafür war hinter zig Fenstern der umliegenden Hotels ein bläuliches Flackern zu sehen. Statt sich für ein feines Essen oder die Disco schickzumachen, sassen die Gäste vor ihren TV-Geräten.

Und hofften, wie jedermann und -frau rund um den Globus, vergeblich darauf, dass unten am Bildschirm auf einmal ein Band durchläuft, auf dem steht, +++Breaking News+++ „Putin stellt Kampfhandlungen ein“ +++Breaking News+++ „Russland zieht sich aus der Ukraine zurück“, oder dass plötzlich ein Moderator auftaucht und sagt, das alles sei nur die Neuauflage eines Medienspektakels gewesen, das vor knapp 100 Jahren für grosses Aufsehen gesorgt hatte.

Damals, am 30. Oktober 1938, strahlte das Radio Network CBS ein von Orson Welles dermassen realistisch inszeniertes Hörspiel aus, dass Millionen von Menschen in Angst und Schrecken versetzt wurden.

Die Sendung hiess „Krieg der Welten“.