Catastrófico

Frío seis heute, muy frío sogar, sagte die Putzfrau heute Morgen im Lift, und klapperte dazu gespielt mit den Zähnen. Die nächste Wetterwarnung („tiempo catastrófico!“) ereilte mich am Empfang. Und tatsächlich: Draussen war kein Mensch zu sehen ausser dem Hauswart. Er war angezogen, als ob er gleich zu einer Arktisexpedition aufbrechen würde. Ich wagte mich trotzdem ins Freie. Das Thermometer auf meinem Handy zeigte 16 Grad.

Im falschen Film

Frisch geduscht stand ich auf dem Hotelbalkon und vergitzelte beinahe vor Vorfreude darauf, gleich ins Yumbo-Center hochzubummeln, um es an der Openairdisco (Motto: „It’s a men’s world“, Flyersujet: behaarte Brust, schwarzes Gilet) endgeil krachen zu lassen. Dann wurde ich der Wolken gewahr, die gfürchig am Himmel über Playa del Inglés dräuten.

Gravibus cor, wie der Lateiner sagt, beschloss ich, den Sonntagabend wieder einmal an einem „Tatort“ statt auf der Tanzfläche zu verbringen. Das schien mir keine üble Alternative zu sein. Immerhin versprach das Fachmagazin „TV Spielfilm“ in seiner Vorschau „schmutzige Serienkiller-Abgründe“, in denen es um „makabre Psychospielchen, verletzten Stolz“ und „zarte Liebesbande“ gehe und die mit einem „Showdown, der sich gewaschen hat“, enden würden.

Der Fall spielte in Dortmund. Dortmunder Tatorte hatte ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, doch das Terrain und das Personal waren mir von früher her noch bestens vertraut: Kennt man einen Schimanski, kennt man alle, dachte ich, und war dann nicht wenig verwirrt, als in der ersten Szene nicht Schimanski zu sehen war, sondern ein mir völlig unbekannter Kommissar namens Faber. Während er und seine mir ebenfalls fremde Kollegin Bönisch zu einer im Wald vergrabenen Leiche fuhren, begann mir zu dämmern, dass Schimanski ja in Duisburg ermittelt hatte und sowieso tot ist.

Das verkomplizierte schlagartig alles und wurde zusätzlich erschwert durch den Umstand, dass Schimanski im Vergleich zu dem, was Faber und Bönisch an Neurosen und Altlasten herumschleppen, von schrebergartenparzellenbesitzerhafter Normalität war.

Wo die Neurosen blühen: Das Ermittlerquartett mit Bönisch und Faber am Tatort im Grünen. Links und rechts von ihnen die Terroristinnentochter und der Drogenkonsument. (Bild: daserste.de)

Noch vor der ersten Drittelspause wusste ich, dass Faber sich schon öppedie hatte umbringen wollen, Bönisch bei der Auswahl ihrer Sexpartner nicht übertrieben pingelig ist (um es einmal gaaanz zurückhaltend auszudrücken), dass die Mutter einer weiteren Ermittlerin mit der RAF (zK. der jüngeren Leserinnen und Leser: das ist nicht der italienische Sänger, der mit „Self Control“ 1994 einen grossen Hit hatte, der später, von Laura Branigan gecovert, zu einem noch viel grösseren Hit wurde, und der mit Umberto „Tu“ Tozzi am Eurovision Song Contest 1987 mit „Gente die Mare“ Platz 3 belegte) sondern die Abkürzung für „Rote Armee Fraktion“; das war eine deutsche Verbrechertruppe, die zwischen 1970 und 1990 Dutzende von Menschen ermordete. Mehr zum Thema gibts für die Grossen hier und für die Kleinen hier), und bevor jemand fragt, „und was ist mit ‚Self Control?!?“ – ecco la musica:

sympathisierte und aussteigen wollte und die Freundin eines Betäubungsmitteln zugeneigten vierten Fahnders wegen Drogengeschichten in Untersuchungshaft sass. Um das Kind der beiden kümmerte sich die Polizistin mit der Terrormutter.

Als Bönisch am Ende erschossen wurde, war ich beinahe froh, denn so kam wieder chly Ordnung ins Organigramm. Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, „lieber zehn Tatorte mit Lena Rosenthal als einer mit Faber“, und das will Mitgottstüüri etwas heissen.

Heute Morgen musste ich jedoch erkennen, dass andere ziemlich anderer Ansicht sind: Die „Frankfurter Allgemeine“ schreibt von einem „psychologischen Glanzstück„, der „Spiegel“ von einem „Höhepunkt aus zehn Jahren Dortmund-Tatort“ (er sei „aufwühlend und fatalistisch wie nie zuvor“), der Tagesanzeiger verlieh „Liebe mich“ das Prädikat „hervorragend“ und der „Stern“ befand, der Streifen beleuchte „mehrere spannende Geschichten, ohne sich zu verzetteln“, aber der Stern hat ja auch schon behauptet, die Hitler-Tagebücher seien echt.

Nur dem Rezensenten der „Zeit“ schien es in diesen 90 Minuten ähnlich ergangen zu sein wie mir: „Das Problem beim Dortmunder Tatort ist, dass alle eins haben. So wenig wie sich die Polizei hier für Abläufe ihres Jobs interessiert, so munter leimt sich das Drehbuch seine Geschichte zusammen. Kunst wäre es, wenn der Weg zum Ziel plausibel auf dem Pfad der Genrelogik beschritten würde. Stattdessen geriert sich die Geschichte wie ein Elefant, der alle Herausforderungen beim Erzählen einfach niedertrampelt“, schreibt Matthias Dell.

Ich gehe davon aus, dass er sich genauso auf den nächsten Mittwoch freut wie ich. Dann sendet der ORF eine neue Folge des „Bergdoktors“. Am Fusse des Wilden Kaisers wird sich noch für die Abläufe des Jobs interessiert, da trampelt niemand etwas nieder, ausser vielleicht ein paar Alpenrosen bei Notfalleinsätzen, da kann man die Guten von den weniger Guten an der Haarfarbe unterscheiden, da kommt immer wieder alles in Ordnung oder kurz: da hat alles seinen Sinn, nicht wie in Dortmund oder jeder beliebigen anderen „Tatort“-Stadt ausser Münster.

Auch das noch

Mitten in den fast allgemeinen Jubel über das Ende der Coronamassnahmen hinein drohen die Scorpions mit der Veröffentlichung einer neuen Platte.

Wenns nach dem Fachmagazin „RockHard“ ginge, würden die Eulen für die Band aus Hannover ganz schön hoch hängen „(Blackout“ aus dem Jahr 1982 wäre auch mit einem Sänger, der Englisch und singen kann, nicht zu toppen), aber nach ihm gehts ja nicht, und drum fürs Erste und Letzte nur soviel:

Falls Klaus Meine und die Seinen das ver@ # $% &! Gepfeife und überhaupt alles Windofchangeige weggelassen haben, liesse sich irgendwann vielleicht mal darüber nachdenken, zu erwägen, ob man unter ganz bestimmten Umständen allenfalls in Betracht ziehen könnte, sich die Scheibe anzuschauen.

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So hatte sich einer oder eine meiner Mit-Hotelgäste die Ferien kaum vorgestellt: Schon zum zweiten Mal rückte wegen dieser Person mitten in der Nacht die Sanität an. Um wen es sich handelt und woran es dem oder der Mitbewohnenden gebricht, weiss ich nicht, aber klar und für sie oder ihn sicher tröstlich ist, dass das Schicksal anderen noch viel übler mitspielte:

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A propos „übel“: Ob ich Lust hätte, mit ihm chli zu fischen, fragte mich ein Arbeitskollege in einem glühendheissen Hochsommer kurz vor dem Ende des letzten Jahrtausends. Er kenne im Deutschen draussen eine super Forellenzucht. Da fahre er am Wochenende hin, und wenn ich nichts anderes vorhätte, sei ich herzlich eingeladen, und schwupp, standen wir in seinem alten Fort Fiesta ein paar Tage später in Diepoldsau an der Grenze. Der Zöllner fragte uns nach dem Ziel und Zweck unserer Reise. Als wir ihm sagten, wir würden in Memmingen fischen gehen, grinste er und wünschte uns Petri Heil.

Kaum waren wir angekommen, machten wir uns ans Werk. Bernhard zog 300 Forellen aus dem Wasser, ich schlug sie tot

(Kommissar:“Können Sie schon etwas über…“

Pathologe: „Schlag ins Genick.“

Kommissar: „Tatwaffe?“

Pathologe: „Stumpfer Gegenstand. Genaueres gibts nach der Obduktion.“

Kommissar: „Ich will die Resultate morgen früh auf dem Tisch haben.“

Pathologe: „Schon klar, Chef.“)

Dann nahmen wir die Leichen gemeinsam aus und hängten sie in eine Räucherkammer. Am nächsten Morgen legten wir unsere Beute in Plastikkisten, deckten sie mit Zeitungspapier ab, verstauten sie im Kofferraum und fuhren bei geschätzten 30 Grad im Schatten los, der Heimat entgegen.

Am Zoll hatte derselbe Beamte Dienst wie schon 24 Stunden zuvor. Bernhard kurbelte das Fenster herunter. Aus unserem Wägeli muss ein dermassen penetranter Gestank entwichen sein, dass der Uniformierte trotz seines offenkundigen Arbeitsmangels darauf verzichtete, unsere Papiere zu kontrollieren, und sagte, wir sollen zusehen, dass wir so schnell wie möglich nach Hause kommen.

Dieser Schwank wäre kaum der Schreibe wert (und schon gar nicht auf Gran Canaria, wo sich die Leute wegen des vielen Atlantiks drumherum ausschliesslich Fischgeschichten erzählen) aber wenn ich ihn jetzt schon niedergeschrieben habe, kann ich ihn auch gleich stehenlassen. Er frisst ja, wie, sagen wir: Forellen, kein Heu.

Öppe so kann man sich unser Wochenende im Memmingen vorstellen (Symbolbild). Foto: blinker.de

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Mit derselben Konsequenz (aber fernab von der Begeisterung), mit der mein Brüetsch auf seiner Facebookseite in den letzten Tagen einen Schweizer Olympiatriumph nach dem anderen feierte

boykottierte ich die völkerverbindenden Spiele des Friedens, der Freude und der Fairness von A wie Aagaard Mikkel (dänischer Eishockeyprofi) bis Z wie Zyla Piotr (polnischer Skispringer), und zwar aus Gründen. Genauso eisern lasse ich deshalb Abend für Abend den russischen Salat auf dem Buffet stehen.

Erste Erfolge haben diese Massnahmen bereits gezeitigt: Russland zögert mit dem Einmarsch in die Ukraine länger als allgemein erwartet und von der „Süddeutschen“ vorgegeben.

Wies scheint, läuft alles darauf hinaus, wers länger aushält: Putin ohne Krieg – oder ich ohne seinen Salat.

Bis der Gelbe Riese wegen der nicht nur von mir gelebten Olympiaabstinenz zu wanken beginnt, ist es gemäss politischen Beobachtern bloss noch „eine Frage der Zeit“. Ein ungenannt bleiben wollender Palastmitarbeiter wurde auf die Frage, wie es mit China nach Peking weitergehen würde, noch konkreter: „Das wird die Zukunft weisen“, raunte er.

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Ich nähere mich langsam der Halbzeit meiner Mini-Auswanderung. Drei Inselwochen sind um, auf fünf weitere darf ich mich freuen. Wettermässig und auch sonst ist immer noch alles in wunderprächtigster Ordnung: Die Tage verstreichen auf Gran Canaria bei durchschnittlich 25 Grad. Am Morgen windets vom Meer her gelegentlich ein wenig, nur dürfte das nichts im Vergleich zu dem sein, was gerade über das mitteleuropäische Festland chuutet, wie dem gestrigen TV-Programm zu entnehmen war:

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Je mehr Länder ihre Antipandemiebeschränkungen lockern, desto zunehmend landen Touristinnen und Touristen auf Gran Canaria. Die meisten stammen aus Norwegen, Dänemark, Schweden und Schottland. Schweizer habe ich erst zwei gesehen.

So unterschiedlich diese Leute von ihrer Herkunft, ihrem Charakter und ihren Intoleranzen her auch sein mögen – etwas haben sie alle gemeinsam: keiner und keine von ihnen benutzt mehr einen Selfiestick.

Free Willys Söhne und Töchter

Jetzt hat also auch die Schweiz ihren Freedom day. Es wurde aber auch Zeit: Dieses ewige Eingesperrtsein in der eigenen Wohnung (das vor der Pandemie von sämtlichen Trendkolumierenden als „Social Cocooning“ gepriesen wurde), das Maskiertsein in aller Öffentlichkeit (nichts wurde in Basel, Luzern oder Solothurn in den letzten zwei Jahren schmerzlicher vermisst) und das dauernde Handyzücken beim Besuch eines Restaurants (in dem man dann vor lauter Aufshandystarren kaum zum Essen und Trinken kam), ist vorbei, jedenfalls bis im Herbst.

Mit ein paar tausend Kilometern Abstand und nur durch die Linse von Onlinemedien betrachtet, könnte man meinen, die Nachfahren des grossen Freiheitskämpfers Wilhelm Tell hätten die vergangenen Monate in Isolationshaft verbracht. Für all jene, die nun wie die Esel am Berg vor den geöffneten Gefängnistoren stehen, haben 13 (in Zahlen: 13!) Redaktorinnen und Redaktoren der Tx-Group zusammengetragen, „was mit den wegfallenden Beschränkungen wieder alles möglich ist“ (der Artikel liegt hinter der Bezahlschranke, aber das macht nichts).

Therapeuten, Historiker, Gastronominnen und Gastronomen, Kulturschaffende, Politiker und Politiker, Jugendliche, Gesundheitsbeamte, Ärzte und so weiter und fort haben in diesen Tagen noch einmal die Gelegenheit, coram publico zu berichten, wie sie die Zeit der Seuche er- und überlebten und darüber zu orakeln, wie es mit der Nation im Allgemeinen und ihnen persönlich nun weitergehen könnte, sollte oder müsste (wenn wir während Corona etwas gelernt haben, dann den grosszügigen Umgang mit dem Konjunktiv).

Einige Detailfragen bedürfen zweifellos noch der Klärung (zum Beispiel jene, ob es nun „das“ oder „der“ Virus heisst, welche Kosten die Pandemie bisher verursacht hat, wies in der Zermatter „Walliserkanne“ läuft oder ob die Massnahmengegner in Sachen Freizeitgestaltung schon einen Plan B haben).

Zunächst einmal gilt es jedoch heute, morgen und sicher auch übermorgen, die Rückkehr zur Normalität zu feiern; unmaskiert und Schulter an Schulter in möglichst grossen Menschenmassen.

Von meiner Insel aus (auf der wir nach wie vor in vir-tueller Knechtschaft leben) rufe ich der Festgemeinde ein herzliches „Prost!“ und „Xundheit!“ zu.