Auf der Homeoffinsel (40)

Dienstag, 16. März 2021, 11.10 Uhr

Bis vor einem Jahr war Chiara, die Küchenchefin in meinem Hotel, verantwortlich dafür, dass sich Abend für Abend bis zu 150 Gäste eine Schlacht am kalten und heissen Buffet liefern konnten. Seit Corona verpflegt sie noch rund zwei Dutzend Personen; per Tellerservice.

Wenn sie zur Arbeit erscheint, reisst sie in ihrem Reich als Erstes sämtliche Fenster auf. So bekommt man von aussen her mit, wie sie munter vor sich hinpfeifend Gemüse und Früchte schnippelt und Tierteile klopft.

Die Menüs sind immer öppe dieselben: Am Montag gibts Koteletts mit kanarischen Kartoffeln und Zucchetti, am Dienstag Pouletschenkel mit kanarischem Härdöpfuschtock und Rüebli, am Mittwoch Hühnerbrüste mit Reis und Auberginen, am Donnerstag Entrecôte mit kanarischen Kartoffeln und Röselichöhl, am Freitag panierte Schnitzel mit kanarischen Kartoffeln und Broccoli, am Samstag Hamburger mit Pommes Frites und sonst nichts und am Sonntag Schweinefilet mit in Chnobli eingelegten Kartoffelstückchen.

Wers nicht so mit Fleisch hat, kann auf Fischgerichte mit denselben Zutaten ausweichen. Ein Salätli und allerlei Süsses rahmen die Hauptgänge ein.

Im Gegensatz zu früher muss Chiara nicht mehr wie eine Häftlimacherin darauf achten, dass ihre Brigade tonnenweise Teigwaren al dente produziert, zig Saucen so abschmeckt, dass sie dem der Pubertät knapp entwachsenen Holländer genauso munden wie der frischpensionierten Schottin, jedes Müscheli einzeln kontrolliert und acht Bratenarten à point liefert. Nun hat sie auch immer wieder Zeit, um von hinter dem Buffet aus zu beobachten, wie die Gäste geniessen, was sie angerichtet hat.

Gelegentlich längts sogar für einen Schwatz mit jenem cliente aus Suiza, der zwar meist nur den Salat nimmt, den sie aber trotzdem tief ins Herz geschlossen hat, weil er schon so lange hier ist und noch so lange bleibt, niemals Anstände macht und überhaupt: er ihr mit seiner unkompliziert-gmögigen Art einfach muy comprensivo ist.

Znacht gibts von 18 bis 20.15 Uhr. Sobald der letzte Gast gegangen ist, macht Chiara in der Küche klar Schiff. Mit einem Maschinenkafi setzt sich anschliessend nach draussen und geniesst chly die Ruhe nach dem Sturm Lüftchen. Wenig später düst sie auf ihrem Roller quer durch die Stadt nach Hause.

Manchmal sehe ich vom Balkon aus, wie sie davonfährt. Dann denke ich, dass Chiara zu den paar Menschen gehören dürfte, die nicht unglücklich darüber sind, wegen der Pandemie massiv weniger Arbeit zu haben.

Auf der Homeoffinsel (39)

Die Wirtschaft auf den Kanaren liegt immer noch am Boden. Das geht den Leuten zunehmend auf den Sack.

Sonntag, 14. März 2021, 4.20 Uhr

Bummeln, baden, biken, schwimmen, schwitzen, schwatzen, liegen, lesen, laufen, sünnele, sändele, swimmingpoolnutzen, fangfrische Fische verputzen und mir allerlei alberne Alliterationen ausdenken: in meinen Miniferien vom Homeoffice war mir nur selten langweilig (und wenn zwischendurch doch, habe ichs genossen).

Weiter war ich bei einem Coiffeur, der mir in 8 Minuten für 10 Euro und mit ohne „Soll ich es hinten auslaufen lassen?“ oder „Darf nochly Gel sein?“ einen pflegeleichten Warmwetterschnitt verpasste. Weil ich grad nochly vörige Zeit hatte, beschloss ich kurzerhand, mich von dem original echten Canario auch rasieren zu lassen.

Jetzt weiss ich, wie sich eine Meränngge unter Schlagrahm fühlt, und kenne ich den Kitzel, den es bereitet, wenn einem ein Wildfremder mit einer scharfen Klinge an der dünnen Haut über der Halsschlagader herumschabt.

Anschliessend brachte ich meine Siebensachen – darunter die nigelnagelneuen Shirts – in eine Wäscherei. Gestern schloss ich das Projekt „Postkarten“ an einem Briefkasten in Maspalomas ab statt erst zwischen der Landung in Zürich und der Abfahrt nach Burgdorf.

Viel zu schreiben hatte ich nicht. Tagsüber ist in Playa del Inglés ungefähr gleichviel los wie während der allnächtlichen Ausgangssperre.

Ein Beizer veranstaltet an diesem Wochenende zwei Konzerte, nur dürfte manchen Gästen beim Lauschen des mutmasslich steirischbayerischen Liedguts etwas Entscheidendes fehlen:

Die Hälfte meiner Inselzeit ist demnächst um. Trotz etlicher Einschränkungen ist es mir hier nach wie vor vögeliwohl. An meinem Gedankenhorizont taucht in diesem Moment wie am Morgen die Sonne aus dem Meer die Frage auf, wie lange es wohl dauern würde, bis die spanischen Behörden realisieren, dass meine auf drei Monate beschränkte Aufenthaltsdauer schon vor Monaten abgelaufen ist.

Andererseits (und sehr, sehr viel wichtiger):

Irgendwie scheint mir, dass die Menschen im Süden Gran Canarias – sie nahmen die Folgen der Pandemie bisher zumindest äusserlich mit bewundernswerter Gelassenheit hin – nun doch etwas nervös werden: ab Ostern begannen sich die Hotels bisher immer wie von selber zu füllen. Stand jetzt deutet allerdings kaum etwas darauf hin, dass die Feriensaison 2021 nennenswert weniger verheerend verlaufen wird als 2020.

Österreich und die Schweiz haben Spanien zwar von ihren Risikolisten gestrichen, doch Deutschland als einer der wichtigsten Touristenlieferanten belässt die Kanaren quasi im Giftschrank.

Der Optimismus der lokalen Geschäftsleute schwindet mit jedem Blick in die Onlineportale, welche die Entwicklung der Seuche auf dem europäischen Festland vermelden. Mit Besorgnis konstatieren die auf Gedeih und Verderb vom Fremdenverkehr abhängigen Einheimischen, dass in West- und Osteuropa weitere Virenwellen anrollen.

Auf der Homeoffinsel (38)

Freitag, 12. März 2021, 15.10 Uhr

Abgesehen davon, dass das Management meines Hotels ein schwules Paar auf die Strasse stellte (genaugenommen war es so, dass der eine der beiden vor seinem zugekoksten Partner in eine andere Unterkunft flüchtete, worauf dem anderen dringend nahegelegt wurde, sich ebenfalls eine neue Bleibe zu suchen), ist in meinem Temporär-Zuhause in den letzten Tagen wenig Erwähnenswertes passiert und schon gar nichts, was auf dem Festland von Belang sein könnte.

Aber jetzt kommt möglicherweise wieder chly Leben in die Bude. Um kurz vor 8 Uhr checkten heute sechs Männer ein, samt Velos und sehr, sehr viel Gepäck.

Bei der Gruppe handelt es sich, wie mir Miguel von der Rezeption berichtete, um Radrennfahrer aus Osteuropa, die sich auf Gran Canaria jedes Jahr um diese Zeit auf die neue Saison vorbereiten.

Wohnen mit Veloprofis: das ist für mich neu. Bisher lebte ich in Hotels sozusagen fast meistens mit Superstars aus der Wintersportszene zusammen.

Letztes Jahr in Davos zum Beispiel quartierte sich im Zimmer nebenan eine leibhaftige Langlauf-Olympiasiegerin ein. Und auch wenn es mir nie in den Sinn kommen würde, Jessica Diggins und ihre Kolleginnen und Kollegen von der US Cross Country-Nationalmannschaft mit einem halben Dutzend spatengesichtiger Menschmaschinen aus einem Achsenstaat des Bösen zu vergleichen: wo ich bin, sind mit erstaunlicher Regelmässigkeit auch andere Topathletinnen und -athleten.

Die Tour de France 1997 – mit Jan Ullrich, Richard Virenque und Marco Pantani als Erstem, Zweitem und Drittem der Inbegriff einer sauberen Sache – legte genau dann einen Etappenhalt in Freiburg ein, als ich daselbst meine Welschlandjahre absolvierte.

Der FC Luzern hielt sein Trainingslager in den 80er-Jahren jeweils in Beromünster ab, während ich zwei Dörfer daneben wohnte und arbeitete. Dank der FCL-Helden konnte ich Sommer für Sommer das nach ihm benannte Loch notdürftig stopfen. Hätte Adrian Knup nicht eines unschönen Tages den Blitz meiner Minolta in plusminus tausend Stücke geschossen, hätte es mit meinen Stippvisiten noch ewig so weitergehen können.

Aber: er schoss, und deshalb laufen der Zentralschweizer Traditionsverein und ich rund 30 Jahren nicht mehr ganz so synchron. Eine winzige Teilschuld an diesem Zerwürfnis nehme ich mit etwas zeitlichem Abstand auf mich. Angefangen hat indes unzweifelhaft Knup, indem er kurz zuvor den Vertrag mit dem FCL unterzeichnete.

Ich hingegen meinte es nur gut. Um der Leserschaft einmal ein anderes Bild als die ewig gleichen Aufnahmen sich stretchender Spieler, ihres in Gedanken versunkenen Trainers Friedel Rausch, mit Klemmbrettern umherstolzierender Mannschaftsbetreuer oder von Kopf bis Fuss blauweiss gewandeter Fans zu bieten, wollte ich Knup an jenem Morgen beim Üben von Freistössen fotografieren, und zwar aus einem möglichst spektakulären Winkel und im Gegenlicht. Also bezog ich neben dem linken Pfosten Posten.

Dass die verzerrte Objekt-Perspektive für Irritationen in meinem Distanzgefühl sorgen würde, bedachte ich nicht, als ich den Fotoapparat in Anschlag brachte. Ich sah zwar, dass der Ball in ziemlich genau meiner Richtung unterwegs war, realisierte aber zu langsam, wie schnell er sich näherte. Durch die Linse betrachtet, flog er eher gemächlich durch die Luft. Tatsächlich hätte er eine bis weit über die Grenzen der Legalität hinaus frisierte Interkontinenzrakete überholt.

In dem Sekundenbruchteil, in dem das „gut“ von „Tami, das kommt nicht gut“ durch meine Gehirnwindungen raste, schlug die Lederkugel in das fragile Hartplastiktürmchen auf der Kamera ein. Wie Friedel Rausch mich daraufhin vor der kompletten Mannschaft zusammenstauchte, werde ich mein Lebtag nicht vergessen.

Beim Versuch, eine Versicherung zu finden, die für den Schaden aufkommen könnte, lernte ich fernmündlich zwar die auf der FCL-Geschäftsstelle mitwirkende Tochter des damals noch gottähnlichen Lozäärn-Präsidenten Romano Simioni kennen. Doch so treuherzig ich auch in den Telefonhörer guckte: sie erteilte mir ebenso einen abschlägigen Bescheid wie alle anderen Leute, auf deren Kulanz ich zu hoffen gewagt hatte.

Knup seinerseits wurde vom Schicksal spät, dafür aber fast überhart bestraft: es wies ihm einen Sitz im Verwaltungsrat des FC Basel zu).

Und wereliwer kam zur Türe herein, als ich in der Endphase des letzten Millenniums eine Art Date in der Autobahnraststätte in Egerkingen hatte? Genau: Werner Günthör.

In Davos weilten gestern Edith und Jürg, zwei Minigolfgspändli. Als sie vor dem Hotel standen, in dem ich im Dezember gastierte, entsannen sie sich der Romanze mit Jessica Diggins, die ansatzweise einzufädeln mir zumindest theoretisch vielleicht vergönnt gewesen wäre, wenn wir nur ein paar Monate mehr Kennenlernzeit gehabt hätten als die zehn Sekunden auf dem Balkon und sie eine gewisse Bereitschaft dafür hätte aufbringen mögen, in mir den Vater ihrer dann halt noch zu zeugenden Kinder zu sehen statt just another guy, dem, wenn er ihrer in einem jener zig Logis, in welchen sie während der Weltcupsaison abzusteigen pflegt, Gewahr wird, nichts Originelleres einfällt, als sie um ein gemeinsames Selfie zu bitten, und schickten mir das oben abgebildete Grüessli.

Ist das nicht allerliebst?

„Ausgebremst oder eingeschüchtert“

„Wir erwarten, mit Anstand und Respekt behandelt zu werden“: Bei der TX Group, zu der auch meine ehemalige Arbeitgeberin gehört, fordern Journalistinnen mit einem Protestbrief ein, was anderswo selbstverständlich ist.

Frei von Verständnis und mit wachsender Wut schaue ich seit einiger Zeit dabei zu, wie das Haus, in dem ich einen mehrheitlich schönen Teil meines Berufslebens verbringen durfte, von seiner Eigentümerin verlotterngelassen wird.

Kaum hatte die Tamedia aus Zürich 2007 „meine“ Berner Zeitung und den „Bund“ gekauft, verordnete sie beiden Publikationen technische und, vor allem: personelle Umstrukturierungen Sparmassnahmen, die zig hervorragende Journalistinnen und Journalisten nicht mittragen wollten, konnten oder durften.

Ende Oktober letzten Jahres teilte die Tx Group, wie die Tamedia inzwischen heisst, mit, sie wolle den „Bund“ und die BZ organisatorisch enger zusammenlegen. Wie diese Zwangsheirat zweier völlig unterschiedlicher Kulturen gelingen soll, solange Mitarbeitende der „Qualitätsblatts“ es nicht für nötig befinden, ihre unter demselben Dach bei der gelegentlich eher boulevardesken Mitbewerberin tätigen Kolleginnen und Kollegen zu grüssen, dürfte nicht nur mir ein Rätsel sein.

Und nun…nun stellt sich auch noch heraus, dass etliche männliche Führungskräfte der Tx Group ein Rollenverständnis pflegen, das mit „antiquiert“ sehr höflich umschrieben wäre. 78 Journalistinnen der Tagesanzeigers, der BZ, des „Bund“ und anderen Tx-Titeln teilten der Geschäftsleitung und den Chefredaktionen schriftlich mit, sie seien „nicht bereit, diesen Zustand länger hinzunehmen“.

Mit „diesen Zustand“ meinen sie konkret: «Frauen werden ausgebremst, zurechtgewiesen oder eingeschüchtert. Sie werden in Sitzungen abgeklemmt, kommen weniger zu Wort, ihre Vorschläge werden nicht ernst genommen oder lächerlich gemacht. Frauen werden seltener gefördert und oft schlechter entlohnt», ist dem zwölfseitigen Schreiben zu entnehmen.

Etliche Journalistinnen berichten, was sie von Kollegen an sexistischen Sprüchen schon zu hören bekamen. Mit all diesem Missständen müsse Schluss sein, fordern die Unterzeichnerinnen. Sie verlangen, was anderswo seit jeher (oder zumindest schon seit einer Weile) zu den betriebsinternen Selbstverständlichkeiten gehört: «Wir erwarten, dass unsere Sichtweise und unsere Arbeit ernst genommen werden. Wir erwarten, dass die Beleidigungen und Beschimpfungen aufhören. Wir erwarten, mit Anstand und Respekt behandelt zu werden.»

Ich bin zulange von der BZ und aus dem aktiven Zeitungsgeschäft weg, um beurteilen zu können, inwiefern das Bemühen der Tamedia/Tx Group, immer noch mehr Geld zu scheffeln, etwas damit zu tun hat, wie Exponenten ihres leitenden Personals mit den Mitarbeiterinnen umspringen.

Vom Gefühl her würde ich sagen: ein Zusammenhang besteht, und wenn es „nur“ der ist, dass manche Platzhirsche offenbar denken, im Kampf um die paar noch verbleibenden Jobs seien alle Mittel erlaubt.

Gemäss dem Protestbrief wurde eine Tx-Journalistin während einer Videokonferenz von einem Kollegen gefragt, „bei dir im Hintergrund schreit ein Kind. Habe ich das mit dir gezeugt?“.

Falls diese Bemerkung überhaupt etwas Gutes hat, dann das: sie diente „Spiegel Online“ als Schlagzeile für eine Geschichte zum Thema „Einschüchterungen, Lohnungleichheit und Machosprüche“ bei der Tx Group. Dank dieses Titels dürfte sie von Hunderttausenden von Menschen gelesen worden sein.

Auch von solchen, die bisher davon ausgingen, dass ein Medienhaus, das immer wieder sehr schnell zur Stelle ist, wenn es darum geht, Unternehmen anzuprangern, die Anliegen wie die Gleichberechtigung, die Frauenförderung oder den Schutz vor sexueller Belästigung eher als notwenige Übel denn als zeitgemässe Formen des Miteinanders betrachten, längst weiss und vorlebt, wie solche Ziele umgesetzt werden.

Auf der Homeoffinsel (37)

Wie sollten beherzigen, wovon unsere Altvorderen kündeten: altiberische Inschrift in meinem Hotel.

Dienstag, 9. März 2021, 6 Uhr

In meiner Konzernzentrale in Burgdorf ginge mir vermutlich öppedie durch den Kopf, wie schön es jetzt wäre, woanders zu sein. An einem Ort, an dem fast immer die Sonne scheint, es wohlig warm ist und wo ich meinem an sinnfreien Corona- und Abstimmungsdebatten längst wundgescheuerten Gemüt zeigen könnte, dass es auf dieser Welt noch anderes gibt als Misstrauen, Missgunst und Misswahlabsagen.

Aber „was bringt all die töricht‘ Träumerei, wenn ich doch nicht da bin, sondern hinfort, hinfort, und ich die Dinge ohnehin nicht ändern kann und klaglos hinzunehmen habe, weil life life is, und life’s bekanntlich what you make it, oh immerdar an meine Pforten klopfendes Schicksal?“, wie es in einer unmittelbar nach der Niederschrift verhühnerten und deshalb unveröffentlichten Version von Shakespeares „Romeo und Julia“ heisst?

Eben.

Drum nutze ich die günstige Gelegenheit, die mir der Zufall vor gut einem Monat behutsam in den Schoss gelegt hat, und lege in der Gegend, in der ich mich gerade befinde, ein paar Tage Pause ein.

Am Montag, 15. März, nehme ich mein Homeoffice wieder in Betrieb.