Auf der Homeoffinsel (38)

Freitag, 12. März 2021, 15.10 Uhr

Abgesehen davon, dass das Management meines Hotels ein schwules Paar auf die Strasse stellte (genaugenommen war es so, dass der eine der beiden vor seinem zugekoksten Partner in eine andere Unterkunft flüchtete, worauf dem anderen dringend nahegelegt wurde, sich ebenfalls eine neue Bleibe zu suchen), ist in meinem Temporär-Zuhause in den letzten Tagen wenig Erwähnenswertes passiert und schon gar nichts, was auf dem Festland von Belang sein könnte.

Aber jetzt kommt möglicherweise wieder chly Leben in die Bude. Um kurz vor 8 Uhr checkten heute sechs Männer ein, samt Velos und sehr, sehr viel Gepäck.

Bei der Gruppe handelt es sich, wie mir Miguel von der Rezeption berichtete, um Radrennfahrer aus Osteuropa, die sich auf Gran Canaria jedes Jahr um diese Zeit auf die neue Saison vorbereiten.

Wohnen mit Veloprofis: das ist für mich neu. Bisher lebte ich in Hotels sozusagen fast meistens mit Superstars aus der Wintersportszene zusammen.

Letztes Jahr in Davos zum Beispiel quartierte sich im Zimmer nebenan eine leibhaftige Langlauf-Olympiasiegerin ein. Und auch wenn es mir nie in den Sinn kommen würde, Jessica Diggins und ihre Kolleginnen und Kollegen von der US Cross Country-Nationalmannschaft mit einem halben Dutzend spatengesichtiger Menschmaschinen aus einem Achsenstaat des Bösen zu vergleichen: wo ich bin, sind mit erstaunlicher Regelmässigkeit auch andere Topathletinnen und -athleten.

Die Tour de France 1997 – mit Jan Ullrich, Richard Virenque und Marco Pantani als Erstem, Zweitem und Drittem der Inbegriff einer sauberen Sache – legte genau dann einen Etappenhalt in Freiburg ein, als ich daselbst meine Welschlandjahre absolvierte.

Der FC Luzern hielt sein Trainingslager in den 80er-Jahren jeweils in Beromünster ab, während ich zwei Dörfer daneben wohnte und arbeitete. Dank der FCL-Helden konnte ich Sommer für Sommer das nach ihm benannte Loch notdürftig stopfen. Hätte Adrian Knup nicht eines unschönen Tages den Blitz meiner Minolta in plusminus tausend Stücke geschossen, hätte es mit meinen Stippvisiten noch ewig so weitergehen können.

Aber: er schoss, und deshalb laufen der Zentralschweizer Traditionsverein und ich rund 30 Jahren nicht mehr ganz so synchron. Eine winzige Teilschuld an diesem Zerwürfnis nehme ich mit etwas zeitlichem Abstand auf mich. Angefangen hat indes unzweifelhaft Knup, indem er kurz zuvor den Vertrag mit dem FCL unterzeichnete.

Ich hingegen meinte es nur gut. Um der Leserschaft einmal ein anderes Bild als die ewig gleichen Aufnahmen sich stretchender Spieler, ihres in Gedanken versunkenen Trainers Friedel Rausch, mit Klemmbrettern umherstolzierender Mannschaftsbetreuer oder von Kopf bis Fuss blauweiss gewandeter Fans zu bieten, wollte ich Knup an jenem Morgen beim Üben von Freistössen fotografieren, und zwar aus einem möglichst spektakulären Winkel und im Gegenlicht. Also bezog ich neben dem linken Pfosten Posten.

Dass die verzerrte Objekt-Perspektive für Irritationen in meinem Distanzgefühl sorgen würde, bedachte ich nicht, als ich den Fotoapparat in Anschlag brachte. Ich sah zwar, dass der Ball in ziemlich genau meiner Richtung unterwegs war, realisierte aber zu langsam, wie schnell er sich näherte. Durch die Linse betrachtet, flog er eher gemächlich durch die Luft. Tatsächlich hätte er eine bis weit über die Grenzen der Legalität hinaus frisierte Interkontinenzrakete überholt.

In dem Sekundenbruchteil, in dem das „gut“ von „Tami, das kommt nicht gut“ durch meine Gehirnwindungen raste, schlug die Lederkugel in das fragile Hartplastiktürmchen auf der Kamera ein. Wie Friedel Rausch mich daraufhin vor der kompletten Mannschaft zusammenstauchte, werde ich mein Lebtag nicht vergessen.

Beim Versuch, eine Versicherung zu finden, die für den Schaden aufkommen könnte, lernte ich fernmündlich zwar die auf der FCL-Geschäftsstelle mitwirkende Tochter des damals noch gottähnlichen Lozäärn-Präsidenten Romano Simioni kennen. Doch so treuherzig ich auch in den Telefonhörer guckte: sie erteilte mir ebenso einen abschlägigen Bescheid wie alle anderen Leute, auf deren Kulanz ich zu hoffen gewagt hatte.

Knup seinerseits wurde vom Schicksal spät, dafür aber fast überhart bestraft: es wies ihm einen Sitz im Verwaltungsrat des FC Basel zu).

Und wereliwer kam zur Türe herein, als ich in der Endphase des letzten Millenniums eine Art Date in der Autobahnraststätte in Egerkingen hatte? Genau: Werner Günthör.

In Davos weilten gestern Edith und Jürg, zwei Minigolfgspändli. Als sie vor dem Hotel standen, in dem ich im Dezember gastierte, entsannen sie sich der Romanze mit Jessica Diggins, die ansatzweise einzufädeln mir zumindest theoretisch vielleicht vergönnt gewesen wäre, wenn wir nur ein paar Monate mehr Kennenlernzeit gehabt hätten als die zehn Sekunden auf dem Balkon und sie eine gewisse Bereitschaft dafür hätte aufbringen mögen, in mir den Vater ihrer dann halt noch zu zeugenden Kinder zu sehen statt just another guy, dem, wenn er ihrer in einem jener zig Logis, in welchen sie während der Weltcupsaison abzusteigen pflegt, Gewahr wird, nichts Originelleres einfällt, als sie um ein gemeinsames Selfie zu bitten, und schickten mir das oben abgebildete Grüessli.

Ist das nicht allerliebst?

„Ausgebremst oder eingeschüchtert“

„Wir erwarten, mit Anstand und Respekt behandelt zu werden“: Bei der TX Group, zu der auch meine ehemalige Arbeitgeberin gehört, fordern Journalistinnen mit einem Protestbrief ein, was anderswo selbstverständlich ist.

Frei von Verständnis und mit wachsender Wut schaue ich seit einiger Zeit dabei zu, wie das Haus, in dem ich einen mehrheitlich schönen Teil meines Berufslebens verbringen durfte, von seiner Eigentümerin verlotterngelassen wird.

Kaum hatte die Tamedia aus Zürich 2007 „meine“ Berner Zeitung und den „Bund“ gekauft, verordnete sie beiden Publikationen technische und, vor allem: personelle Umstrukturierungen Sparmassnahmen, die zig hervorragende Journalistinnen und Journalisten nicht mittragen wollten, konnten oder durften.

Ende Oktober letzten Jahres teilte die Tx Group, wie die Tamedia inzwischen heisst, mit, sie wolle den „Bund“ und die BZ organisatorisch enger zusammenlegen. Wie diese Zwangsheirat zweier völlig unterschiedlicher Kulturen gelingen soll, solange Mitarbeitende der „Qualitätsblatts“ es nicht für nötig befinden, ihre unter demselben Dach bei der gelegentlich eher boulevardesken Mitbewerberin tätigen Kolleginnen und Kollegen zu grüssen, dürfte nicht nur mir ein Rätsel sein.

Und nun…nun stellt sich auch noch heraus, dass etliche männliche Führungskräfte der Tx Group ein Rollenverständnis pflegen, das mit „antiquiert“ sehr höflich umschrieben wäre. 78 Journalistinnen der Tagesanzeigers, der BZ, des „Bund“ und anderen Tx-Titeln teilten der Geschäftsleitung und den Chefredaktionen schriftlich mit, sie seien „nicht bereit, diesen Zustand länger hinzunehmen“.

Mit „diesen Zustand“ meinen sie konkret: «Frauen werden ausgebremst, zurechtgewiesen oder eingeschüchtert. Sie werden in Sitzungen abgeklemmt, kommen weniger zu Wort, ihre Vorschläge werden nicht ernst genommen oder lächerlich gemacht. Frauen werden seltener gefördert und oft schlechter entlohnt», ist dem zwölfseitigen Schreiben zu entnehmen.

Etliche Journalistinnen berichten, was sie von Kollegen an sexistischen Sprüchen schon zu hören bekamen. Mit all diesem Missständen müsse Schluss sein, fordern die Unterzeichnerinnen. Sie verlangen, was anderswo seit jeher (oder zumindest schon seit einer Weile) zu den betriebsinternen Selbstverständlichkeiten gehört: «Wir erwarten, dass unsere Sichtweise und unsere Arbeit ernst genommen werden. Wir erwarten, dass die Beleidigungen und Beschimpfungen aufhören. Wir erwarten, mit Anstand und Respekt behandelt zu werden.»

Ich bin zulange von der BZ und aus dem aktiven Zeitungsgeschäft weg, um beurteilen zu können, inwiefern das Bemühen der Tamedia/Tx Group, immer noch mehr Geld zu scheffeln, etwas damit zu tun hat, wie Exponenten ihres leitenden Personals mit den Mitarbeiterinnen umspringen.

Vom Gefühl her würde ich sagen: ein Zusammenhang besteht, und wenn es „nur“ der ist, dass manche Platzhirsche offenbar denken, im Kampf um die paar noch verbleibenden Jobs seien alle Mittel erlaubt.

Gemäss dem Protestbrief wurde eine Tx-Journalistin während einer Videokonferenz von einem Kollegen gefragt, „bei dir im Hintergrund schreit ein Kind. Habe ich das mit dir gezeugt?“.

Falls diese Bemerkung überhaupt etwas Gutes hat, dann das: sie diente „Spiegel Online“ als Schlagzeile für eine Geschichte zum Thema „Einschüchterungen, Lohnungleichheit und Machosprüche“ bei der Tx Group. Dank dieses Titels dürfte sie von Hunderttausenden von Menschen gelesen worden sein.

Auch von solchen, die bisher davon ausgingen, dass ein Medienhaus, das immer wieder sehr schnell zur Stelle ist, wenn es darum geht, Unternehmen anzuprangern, die Anliegen wie die Gleichberechtigung, die Frauenförderung oder den Schutz vor sexueller Belästigung eher als notwenige Übel denn als zeitgemässe Formen des Miteinanders betrachten, längst weiss und vorlebt, wie solche Ziele umgesetzt werden.

Auf der Homeoffinsel (37)

Wie sollten beherzigen, wovon unsere Altvorderen kündeten: altiberische Inschrift in meinem Hotel.

Dienstag, 9. März 2021, 6 Uhr

In meiner Konzernzentrale in Burgdorf ginge mir vermutlich öppedie durch den Kopf, wie schön es jetzt wäre, woanders zu sein. An einem Ort, an dem fast immer die Sonne scheint, es wohlig warm ist und wo ich meinem an sinnfreien Corona- und Abstimmungsdebatten längst wundgescheuerten Gemüt zeigen könnte, dass es auf dieser Welt noch anderes gibt als Misstrauen, Missgunst und Misswahlabsagen.

Aber „was bringt all die töricht‘ Träumerei, wenn ich doch nicht da bin, sondern hinfort, hinfort, und ich die Dinge ohnehin nicht ändern kann und klaglos hinzunehmen habe, weil life life is, und life’s bekanntlich what you make it, oh immerdar an meine Pforten klopfendes Schicksal?“, wie es in einer unmittelbar nach der Niederschrift verhühnerten und deshalb unveröffentlichten Version von Shakespeares „Romeo und Julia“ heisst?

Eben.

Drum nutze ich die günstige Gelegenheit, die mir der Zufall vor gut einem Monat behutsam in den Schoss gelegt hat, und lege in der Gegend, in der ich mich gerade befinde, ein paar Tage Pause ein.

Am Montag, 15. März, nehme ich mein Homeoffice wieder in Betrieb.

Auf der Homeoffinsel (36)

Montag, 8. März 2021, 6.20 Uhr

Auf dem ganzen Globus dürfte es kein Hotel-Badezimmer geben, in dem der „liebe Gast“ nicht mit einem Kleber auf die Möglichkeit hingewiesen wird, während seines Aufenthaltes ein bisschen etwas für die Umwelt tun zu können.

Alles, was er dafür machen müsse, sei, die Bade- und Handtücher nach dem Gebrauch zu trennen: was ersetzt gehöre, soll er in die Dusche oder ins Lavabo oder auf den Boden legen. Weiterverwendbares gehöre an den Haken oder aufs Biigeli mit den sauberen Sachen.

Seit ich gelegentlich auswärts übernachte, beherzige ich diese Empfehlungen mit einer mich manchmal selber überraschenden Sturheit. Genauso konsequent wechselt der Zimmerservice den kompletten Satz Frottierzubehör Tag für Tag aus und zwar unabhängig davon, wo ich seine Einzelteile in welchem Zustand deponiere.

Inzwischen bin ich fest davon überzeugt, dass auch dieser ökologische Wahnsinn Methode hat. Vermutlich bringen die Raumpflegerinnen grundsätzlich alle Tücher in die Reinigung, damit die Leute da unten mehr zu tun haben. Ein Teil des Geldes, das die Wäscherinnen und Wäscher auf diese Weise schwarz verdienen, fliesst als Kickbacks in die Taschen der Reinmacheequipe zurück.

Deren Angehörige laufen am Feierabend schnurstracks in einen von Bill Gates kontrollierten Apple Store, um den Zustupf in 5G-Smartphones von Angela Merkel zu investieren und schwupp – sind die illegalen Einkommen so porentief sauber gewaschen wie Stunden zuvor die Tücher aus meinem Bad.

Auch in den Nasszellen der Hotels dieser Welt scheinen Leute mit gewissen Privilegien (Generalschlüssel, riesige Wäschekörbe auf Rädern) also Dinge zu tun, von denen Normalsterbliche nichts ahnen, mit Absichten, die sich zweifellos erst dann offenbaren, wenn alles zu spät ist, aber das darf man ja kaum laut denken, ohne gleich als Querduscher verhöhnt und verspottet zu werden.

Auf der Homeoffinsel (35)

„Ups. Mascarilla vergessen. Können wir das nochmal…?“ – „Klar.“
„Jetzt ist gut. Das andere Bild löschst du einfach.“ – „Natürlich.“

Sonntag, 7. März 2021, 13 Uhr

Es ist ein schleichender Prozess: Wenn man chly länger in einem Hotel lebt als normale Feriengäste, behandeln einen die Mitarbeitenden irgendwann nicht mehr wie, sagen wir, der in Immobilien machende Heinz aus Sissach, der eincheckt, dann zwei Wochen lang über das falsche Mineralwasser und auch sonst alles meckert und am Schluss, wenn er das Visachärtli ans Lesegerät hält, sagt, es sei alles superduper gewesen und er komme nächstes Jahr ganz bestimmt wieder, obwohl er genausogut wie der Mann hinter dem Maschineli weiss, dass das auch nicht der Fall sein würde, wenn bis dann weltweit nur noch ein Hotel geöffnet wäre, oder wie die etwas veronaferreshaft wirkende Gerlinde aus Mannheim, deren Parfümwolke und so weiter, und so fort.

Ich bin jetzt seit gut vier Wochen hier und merke diese Veränderungen an munzigen Details. Zum Beispiel sagen die Leute vom Staff („Staff“ wollte ich schon immer mal schreiben. Das klingt so wichtig nach Backstage auf dem Gurtenfestival samt nicht übertragbarem Badge mit Passfoto und einem Bier in der Nähe von Göläs Schlagzeugroadie) zu mir nicht mehr „buen día“, sondern nur noch „¡Hola!“ oder „Ciao“.

Die Frau, die mein Zimmer putzt, legt mir seit einer Weile sechs statt zwei Kafirähmli neben den Wasserkocher. Eusebio, der Mann am Pool, avanciert von Tag zu Tag mehr zu meinem besten Freund. Wir haben zwar noch kein Wort miteinander gesprochen, aber er zeigt mir jeden Spätnachmittag den emporgereckten Daumen, wenn ich mich seinem meist menschenleeren Revier nähere.

Darüberhinaus würde es mich sehr wundern, wenn Miguel vom Empfang während seiner langen, langen Arbeitstage nicht zumindest hin und wieder darüber nachdenken würde, sich für mich von seinem Partner zu trennen.

Andernfalls hätte er ihn mir sicher längst vorgestellt.