Dur d Suisse (I)

Montag, 19. September 2022: Von Weinfelden nach Romanshorn

Die Idee kam aus dem Nichts: einmal quer durch die Schweiz radeln – das wärs, fand ich, und schwupp, sitze ich auf einer Hotelterrasse am Bodenseeufer, blinzle im Tiischi auf das glitzernde Wasser hinunter und in den fast wolkenlosen Himmel hoch und freue mich wie das berühmte kleine Kind auf das Tüürli.

Richtig los gehts erst morgen, aber zum Einstieg stieg ich heute gegen Mittag schon in Weinfelden aus dem Zug, um die letzten 30 Kilometer auf zwei Rädern zurückzulegen.

Weinfelden – Romanshorn: Das ist die letzte Etappe der „Mostindien-Tour“, und wer nun erwartet, dass ich aufzähle, was ich unterwegs alles gesehen habe, wird nicht enttäuscht (im Lautsprecher rät Philipp Fankhauser gerade, „Let life flow“. Wenn das nicht perfekt zu meinem Hier und Jetzt passt, weiss ich auch nicht, was dann passen soll; „Easy on Sunday morning“ vielleicht, aber am Montag?):

Auf Haupt- und Nebenstrassen fuhr ich an mindestens hundert Landwirten auf Traktoren, einer Million Apfelbäume, zig Nachtlokalen, Wiesen voller Wahlplakate („Renato Forster als Berufsrichter“) und mehreren Fasnachtskostümläden vorbei sowie durch gefühlt sämtliche Kreisel, die je gebaut wurden.

Die Schiffe im Hafen schaukeln sanft dem Winterschlaf entgegen. Touristen sind noch fast keine da. In den Bäumen treffen die Stare letzte Vorbereitungen für ihre Reise nach Afrika. Für die meisten von ihnen scheint dies alles andere als Routine zu sein; sie haben jedenfalls noch sehr, sehr viel zu besprechen.

Das unterscheidet sie – nebst zwei, drei weiteren Punkten – von mir: Ich plane nichts. Wenn alles läuft, wie ich es mir vorstelle, bin ich in plusminus einer Woche in Genf. Die Route führt mich vielleicht von Wil über Baden, Möhlin, Biel und Lausanne, vielleicht aber auch nicht. Übernachtungsmässig lasse ich ebenfalls alles offen.

Wenns nicht so ausgelutscht klingen würde, dass man kaum zu erwägen wagt, es zu sagen, könnte man also sagen: Der Weg ist das Ziel.

Jetzt: „My life“ von Billy Joel.

In Sachen „Kreiselgestaltung“ macht den Thurgauerinnen und -gauern (total gibt es von ihnen 285 000 Stück. Sie leben in über 200 Ortschaften, wobei über als zwei Drittel dieser Dörfer weniger als 1000 Einwohnerinnen und Einwohner zählen. In neun Orten gibt es mehr als 5000 Menschen, aber das nur am Rande und um zu zeigen, dass ich nicht nur finster entschlossen bin, in diesen Tagen den Körper von Grund auf neu zu stählen, sondern auch mehr als nur Willens, den Geist mit möglichst vielen Eindrücken, Erkenntnissen, Zahlen und Fakten zu tunen) übrigens niemand etwas vor.

Manche sind mit Sujets geschmückt, die das Auge dermassen erfreuen, dass man wie ein Häftlimacher aufpassen muss, dass man vor lauter Bestaunen nicht das Abbiegen verpasst.

Aus der Ferne: „First day of my life„. Heute singen alle vom Leben. Das kann nur ein Zeichen sein; ein gutes noch dazu, und hoffentlich nicht nur für mich.

Leider kein Albtraum

Als ich den Töff vor dem Coiffeursalon in der Burgdorfer Altstadt abstellte, hörte ich gellende Schreie. Ausgestossen wurden sie von einer riesengrossen Dogge. Sie hing mit dem Vorderkörper aus dem Fenster im 2. oder 3. Stock des Hauses nebenan.

Mit seinen Oberschenkeln hielt sich das Tier am Fensterbrett fest. Zurück konnte es nicht mehr. Panisch zappelnd suchte es mit den Vorderpfoten nach Halt in der Luft.

Zwei Leute probierten vergeblich, sich Zugang zur Wohnung zu verschaffen. Die Menschen, die unten standen, wussten, wie das Drama enden wird, und dass sie nichts dagegen würden tun können.

Ich griff, wie viele andere, zum Handy, um die Polizei zu alarmieren. In dem Moment, in dem ich auf das Display schaute, hörte ich, wie der Hund auf dem Boden aufschlug. Den Sturz bekam ich deshalb zum Glück nicht mit.

Wenig später waren zwei von der Kapo aufgebotene Stadtpolizisten vor Ort. Dann holte jemand von einer Tierarztpraxis den toten Vierbeiner ab.

In der Nacht auf heute schlief ich keine Sekunde. Mein Gehirn zeigte mir immer und immer wieder den Film des Unglücks.

Etwas Schrecklicheres habe ich ausserhalb von Kinosälen und fernab meiner TV- und Computerbildschirme noch nie gesehen. Es war wie in einem Albtraum – nur, dass man aus Albträumen in der Regel erwacht, wenn die Katastrophe passiert.

Im richtigen Leben war das gestern nicht der Fall. 

Geng sövu

Nach Monaten des Hegens und Pflegens und Giessens und Büschelns konnte ich sie auf meinem Balkon nun endlich einfahren: die Radiesli-Ernte 2022.

Sorry seems to be the hardest word

Es war der perfekte Sommerlochfüller: Am Steuer eines Privatflugzeuges drang Bundesrat Alain Berset am 5. Juli in französisches Hoheitsgebiet ein. Kampfjets der Armée de l’air et de l’espace zwangen ihn zur Landung.

Noch bevor sie die für sie heiligen sieben W-Fragen („Was genau ist wann wo wie wegen wem warum passiert und und woher stammen die Informationen?“) beantworten konnten, machten sich helvetische Medienschaffende daran, diese Nachricht nach allen Regeln der Kunst auszuschlachten.

Die Redaktionen entsandten Rechercheure auf den Flugplatz, von dem aus der Magistrat gestartet war („…ausplaudern will niemand etwas. Ganz im Gegenteil. Man tut so, als hätte es den ominösen Flug nie gegeben.“), fragten Kommunikationsexperten um Rat («Der Eindruck, der bleibt, ist: Da stimmt etwas nicht.») und unterhielten sich mit Politikerinnen und Politikern. Der aus Film, Funk und Fernsehen bekannte Strafrechtsexperte und Ständerat Daniel Jositsch urteilte: „Es gibt da wirklich nichts zu verteidigen.“

Das Tagblatt warf Berset vor, immer wieder „Zeit für allerlei zusätzliche Beschäftigungen“ zu finden: „Er handelt mit Kryptowährungen. Er fährt mit einer Geliebten in den Schwarzwald. Und seit dieser Woche wissen wir auch, dass Berset ein leidenschaftlicher Pilot ist.“ Es empfahl dem „No risk, no fun“-Bundesrat: „Wenn er nicht abstürzen will, muss er jetzt zum Landeanflug ansetzen.“

Die Weltwoche analysierte, Berset habe sich „mit seiner Flug-Eskapade eine Blösse zu viel“ gegeben. Die SP sei wegen ihres prominentesten Mitgliedes „in eine Art Schockstarre gefallen“, die Landesregierung „befremdet“ und Berset „noch erpressbarer“ geworden.

Die Sonntagszeitung verglich den Bundesrat mit dem Starpiloten aus den „Top Gun“-Filmen und illustrierte ihre steilen Thesen mit einer wahnsinnig originellen Fotomontage:

Die NZZ orakelte: „Vielleicht wollte Berset, der während der Pandemie enorm belastet war. kürzlich einen Vertrauten verlor und um die AHV-Revision fürchten muss, einfach etwas Luft ablassen. Vielleicht war er abgelenkt. Vielleicht hat er den Flug ungenügend vorbereitet. Vielleicht hat er die Franzosen nicht ernst genommen. Und man fragt sich: Hat der Mann zu viel Druck?“, während die „Weltwoche“ enthüllte: „Berset flog auch mit Geliebten.“

Quer durch den ausgedünnten Blätterwald und das weitverzweigte Online-Kanalsystem wurden Fakten aufs Geratewohl hin mit Vermutungen verdünnt und Mitteilungen hemmungslos mit Meinungen vermischt. Wenn ich das richtig überblicke, verlangte niemand explizit Bersets Rücktritt. Das war aber auch nicht nötig: entsprechende Forderungen quollen auch so zwischen den vielen, vielen Zeilen hervor.

Doch dann – quasi aus heiterem Himmel – war die warme Luft draussen: Wie die Sonntagszeitung in ihrer letzten Ausgabe schrieb, belegen Aufzeichnungen, dass die französischen Luftraumüberwacher Berset unter der Flugzeug-Kennzeichnung HB-TOR angefunkt hatten. Tatsächlich trug seine Kleinmaschine aber den Namen HB-TDR. Deshalb reagierte Berset auf den Landebefehl, wie ein Fritz reagiert, wenn zehn Meter neben ihm jemand zu jemandem „Tschou Pesche“ sagt.

Eigentlich, denkt man, wäre vonseiten der „Vierten Gewalt“ jetzt eine Entschuldigung fällig. Ein simples „Sorry, Herr Berset“ oder „Excusez, monsieur conseiller fédéral“ würde angesichts der Ansprüche, die manche Leute – zum Teil völlig zu Recht – inzwischen an die auf Klicks fokussierten Medienschaffenden stellen, genügen.

Mässig überraschenderweise ist jedoch nichts dergleichen geschehen. Stattdessen zieht die Karawane weiter und freut sich händeringend darauf, die nächste Sau durchs Dorf zu jagen.