Dur d Suisse (V)

Freitag, 23. September 2022: Von Aarau nach Solothurn (und nach Hause)

Drei Tage früher als geplant breche ich meine Tour quer durch die Schweiz heute ab. Eigentlich liegen nur noch Stopps in Ins, Yverdon und Lausanne vor mir. Von Westen her nähert sich jedoch eine Schlechtwetterfront, und im Dauerregen velofahren: das muss nicht sein.

Aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben: Den Rest meiner Reise kann ich nachholen, sobalds draussen wieder freundlicher ist.

Das vorerst letzte Teilstück führte mich durch weitgehend vertrautes Gelände. Entsprechend absehbar waren die Greatest Hits des knapp 60 Kilometer langen Abschnitts: Vorwiegend auf Asphalt gings vom Aarauer Schachen aus der Aare und der Jurakette entlang in die Oltner Altstadt, durch den schmucken Dorfkern von Aarwangen, über die Holzbrücke von Wangen und nach Solothurn.

Eine Neuentdeckung durfte ich unterwegs machen: das Naturreservat bei der Kiesgrube in der Gunzger Allmend. Durch den Gesteinabbau entstand dort ein Seeli, in dem zig Amphibien leben. Auch Biber sollen sich dort vögeliwohl fühlen, nur haben sich die sich entweder schon ins Wochenende verabschiedet – oder sind ebenfalls in den Schärmen geflüchtet.

Jetzt bin ich wieder daheim, in Burgdorf. Ganz ungelegen kommt mir der Unterbruch nicht: Es muss einiges gewaschen werden. Meine Beine freuen sich auf die Ent-Spannung und mein Kopf macht sich langsam daran, all die Eindrücke, die ich auf den rund 350 Kilometern zwischen Romanshorn und Solothurn gewinnen durfte, zu büschelen. Er dürfte damit eine Weile beschäftigt sein.

Dur d Suisse (IV)

Donnerstag, 22. September 2022: Von Rümlang nach Aarau

Die Flugzeuge auf der anderen Seite der Strasse schnärchelten noch leise vor sich hin, als ich mir durch eine Horde Asiaten den Weg aus dem Hotel ellbögelte. Rollkoffer bei Fuss harrten die Gäste aus Fernost des Cars, der sie gleich zu Uhren-Bucherer, in die Sixtinische Kapelle und auf den Eiffelturm bringen soll, wo ihnen ein tapfer lächelnder Inder ein original echt europäisches Zmittag (Bouillabaisse–> Paëlla mit weissen Bohnen und Speck–> Haggies–> Schwarzwälder Kirschtorte) kredenzen wird.

Ich meinerseits radelte los nach Aarau. Als ich bei den Chatzeseeli vorbeifuhr und dem Gezwitscher und Gequake im Moor lauschte, fiel mir auf einmal auf, dass ich seit dem ersten Tag meines Türlis – ganz entgegen meiner Gewohnheit – ohne Musik in den Ohren unterwegs bin.

Daran wird sich nichts ändern: Die Eindrücke, die ich auf jeder Etappe sammeln darf, wären unvollständig ohne den sich stetig verändernden Soundtrack der Tiere, der raschelnden Blätter, des plätschernden Wassers (und, ja: der hin und wieder parallel zu den Velowegen verlaufenden Hauptstrassen).

An den Chatzeseeli legte ich einen ersten Stopp ein: cheibe schön. Durchs Furttal gings weiter nach Würenlos. Das Dorf besteht – Überraschung! – nicht nur aus dem Fressbalken über der Autobahn, sondern auch oder vor allem aus wie aus dem Truckli wirkenden Häuschen, zwei Kirchen, viel Grünzeug sowie einem Brunnen und putzigen Eseli.

Ganz allgemein gilt für diese Region: Hier setzt Mutter Natur – with a little help from den Bauern – manch künstlerische Akzente (siehe Bild ganz oben) und sagen sich Ross und Reiher guten Morgen:

Das Wasserschloss (also: der Treffpunkt von Aare, Reuss und Limmat), der Vindonissa Park, das Kloster Königsfelden oder die Auen zwischen Brugg und Aarau: ein Hit folgte, wie an einem Toto-Konzert, dem nächsten, und wenn wir schon dabei sind – machen wir chly Musig.

(Das, werte Leserinnen und Leser, nennt man „die Erwartungen des Publikums unterlaufen“.)

Nun, 60 Kilometer nach Rümlang, bin ich in Aarau angekommen. Am Abend gehe ich mit den Bespassern von Tess‘ Freundin Nanuk fein essen, wobei: unsere vierbeinige Begleitung bestellt für sich möglicherweise nur ein halbes Portiönchen:

(Bild: Sarah Bergmann und Pascal Grütter)

Morgen wartet als nächstes Etappenziel Solothurn und übermorgen, falls die Wetterprohpheten das richtig sehen, Regen bis in die Niederungen. Er naht von Punkt dort her, wo ich hinmöchte.

Dur d Suisse (III)

Mittwoch, 21. September 2022: Von Wil nach Rümlang

Es ist schon erstaunlich: Meinem Geografielehrer lag sehr viel daran, dass seine Eleven sämtliche russischen Gewässer von A bis Z oder dem Sauerstoffgehalt nach herunterbeten konnten. Von 95 Prozent der Ortschaften, die ich auf meinem Tüürli durch die Schweiz in diesen Tagen durchquere, habe ich jedoch noch nie gehört. Soviel, to whom it may concern, zum Thema „Ihr lernt für das Leben, nicht für die Schule.“

Heute zum Beispiel durfte ich Hofen, Hurnen, Bichelsee, Höfli oder Seelmatten (was für ein schöner Name!) entdecken. Das sind lauter Dörfer mit schmucken Häuschen, liebevoll gepflegten Gärten, jahrhundertealten Kirchen, anmächeligen Beizen, prächtigen Bauernhöfen und so weiter, und so fort, und auch wenn ich mich nicht in jedem dieser Orte für den Rest meines Lebens niederlassen möchte: Sie haben Charme und Cachet und verströmen nur schon damit etwas, was zig prominenteren Gemeinden fehlt.

Eine steife Bise begleitete mich vom Start in Wil bis zur Zielankunft in Rümlang. Weitere Gefährten auf der sich 60 Kilometer-Etappe waren Schafe, Schweine, Hühner und Kühe sonder Zahl. Andere Bikerinnen und Biker sah ich hingegen kaum.

Der grösste Teil der Strecke führte der Töss entlang durch sommerlich grüne Wälder, in denen Vögel pfiffen, Hundlis ihre Herr- und Frauchen spazierenführten und Jogger joggten.

Getrübt wurde die Idylle nur einmal, dafür aber z Grächtem, wie der Ämmitauer sagt: Kurz vor Winterthur gings plötzlich steilst hoch auf den Winterberg. Wäre ich nachtragend, würde ich diese einfältige Strasse mit ihren elenden Kurven, hinter denen immer ein noch tödlicherer Abschnitt lauerte (mein Pulsmesser zeigte einmal 164 an, was mich dann doch an den Rand einer leisen Beunruhigung brachte), jetzt noch verfluchen, aber ich bin ja nicht so.

Sehr empfehlenswert, besonders nach einer solchen Er-Fahrung: Ein Halbeli Mineral mit im Café Rubus in Effretikon.

Je näher ich der Agglomeration Zürich kam, desto zum Unguteren veränderte sich das Landschaftsbild: Bassersdorf, Kloten, Opfikon: Es sieht überall gleich deprimierend aus. Durch volle Massenmenschhaltungsanlagen schlurfen Männer, Frauen und – wirklich schlimm – Kinder mit leeren Gesichtern.

Doch ausgerechnet in Kloten widerfuhr mit eines der lässigsten Erlebnisse der an lässigen Erlebnissen nicht armen letzten Tage. Ich hatte mich heillos verfahren und erkundigte mich aufs Geratewohl hin in einer Papeterie nach dem Weg. Die Frau an der Kasse konnte mir nicht helfen, der sicher schon vor 50 Jahren pensionierte Italiener, der bei ihr gerade einen Block bezahlen wollte, hingegen schon; und wie.

„Wisse ich!“, sagte er mit einer rührenden Mischung aus Stolz und Freude, und fügte an, „du warte. Io zahlen. Dann zeige.“

Eine Minute später hötterlete ich auf meinem E-Bike hinter ihm auf seinem Uraltgöppel her aus der Innenstadt bis zu einem Platz, an dem die Strecke wieder ausgeschildert war. Ich reichte dem Mann die Hand und bedankte mich für seinen Einsatz, worauf er strahlend erwiderte: „Immer helfe wenn du Problem!“

Jetzt bin ich im Rümlang und frage mich, was es über dieses Dorf lange zu rühmen geben könnte. Am Himmel über mir stehen, Wirtschaftskrise hin, die Flugzeuge Schlange, auf der Hauptstrasse unter mir wälzen sich, Benzinpreis her, in einem fort Lastwagen und Autos über die Hauptstrasse.

Ich kann das Zimmerfenster nicht öffnen, die einzige Kafimaschine des Hauses ist ausser Betrieb und der junge Diensthabende an der Rezeption wirkt auf mich so vertrauenserweckend wie die Männer am Nebentisch: Sie tragen Businessanzüge, haben aber auf Hundert und zurück noch nie ein Büro von innen gesehen – es sei denn, es handle sich um eines der Staatsanwaltschaft.

Einen Vorteil hat die Behausung allerdings: Sie liegt direkt an der Strecke, auf der ich morgen nach Aarau radle. Auf diese Fahrt freue ich mich besonders: Einerseits führt sie mich in meine alte Heimat.

Andererseits sehe ich dann weitere der bemerkenswert vielen Flüsse, deren Namen mit T beginnen: Die Thur und die Töss liegen schon hinter mir; in wenigen Stunden gehts a Tlimmat, a Treuss und a Taare.

Dur d Suisse (II)

Dienstag, 20. September 2022: Von Romanshorn nach Wil

Von Kanton zu Kanton sind nicht nur die Corona-Regeln verschieden, sondern auch die Aussichten von den Hotelbalkonen.

Gestern, im Thurgau, erfreute dieses Paronama meine Augen:

Nun, in Wil, werde ich mit diesem Anblick verwöhnt:

Aber gut: Äusserlichkeiten zählen auch in dieser Sparte weniger als die Innereien. So betrachtet, kann ich mich hier, mitten im Industriegebiet am Rande dieses 25 000-Einwohnerinnen und -wohnerstädchens in der Agglo St. Gallen, nicht beklagen:

Der Weg von Romanshorn nach Wil war ein stetiges Auf und Ab (mit gefühlt deutlich mehr Aufs). Immer, wenn ich, geistig an meinem Testament arbeitend, einen Hoger erklommen hatte und dachte, höher hinauf kanns nicht mehr gehen, führte die Strecke ein paar hundert Meter geradeaus, um dann erneut anzusteigen.

Irgendwann war ich aber im Flachland gelandet. Mit dem gurgelnden Wasser der Thur auf der rechten Seite und vielen, vielen Kühen zur Linken pedalte ich am Schloss Hagenau, der ebenso alten wie krummen Thurbrücke bei Bischofszell (der längsten noch erhaltenen mittelalterlichen Natursteinbrücke der Schweiz) und an grob geschätzt vier Millionen Fachwerkhäusern vorbei meinem Ziel entgegen.

Wälder gibts auch, noch und nöcher sogar, und darin wohnen gemäss den Tafeln bei den von zig Vekehrsvereinen und Firmen gespendeten Ruhebänkli unzählige Biber, aber heute hatten die putzigen Kerlchen offensichtlich frei.

In Wil kam ich kurz nach der Zmittag-Stosszeit an. Ich verspürte nach rund 40 Kilometern ein kleines Hüngerchen und, vor allem, eine unbändige Lust auf eine grosse St. Galler Bratwurst. Eine söttige versprach im Chäschtli neben dem Eingang die erstbeste Beiz, die ich ansteuerte.

Drinnen wurde ich einer Trostlosigkeit gewahr, von der Bumann, der Restauranttester, schon so manch trauriges Lied gesungen hat. Nichtsdestotrotz – und weil ich den Wirtsleuten die 18 Franken Umsatz fürs Menü und ein Getränk wirklich gönnen mochte – setzte ich mich an einen Tisch.

Ewigkeiten später erkundigte sich eine mässig motiviert wirkende Servicefach(?)angestellte nach meinem Begehr, und zog nach meinem „einmal Bratwurst mit Pommes bitte, und ein Halbeli Mineral mit“ missmutig von dannen.

Nach fünf Minuten schlurfte sie aus der Tiefe des fast etwas gfrüchtig finsteren Raumes wieder zu mir. Die Bratwürste seien leider aus, beschied sie mir. Es wäre aber noch ein Cordon-bleu mit Kroketten und Gemüse zu haben, zum gleichen Preis wie das Menu.

Also bestellte ich das. Wenn ich mich richtig entsinne, machte die Mikrowelle „Pling“, bevor ich „Cordon-bleu“ fertig ausgesprochen hatte:

Nach der Nacht im Herbie gehts morgen weiter in Richtung Agglo Zürich. Bis Kloten sinds plusminus 50 Kilometer. Mein Akku hält nach wie vor so tiptopp wie die Frisur. Die Wetteraussichten sind prächtig, und meine Vorfreude auf alles, was auf diesem Tüürli noch kommen mag, ist gross. Das Füdli jammert gerade ein bisschen, aber das geht mir, ganz ehrlich, am Arsch vorbei.

Dur d Suisse (I)

Montag, 19. September 2022: Von Weinfelden nach Romanshorn

Die Idee kam aus dem Nichts: einmal quer durch die Schweiz radeln – das wärs, fand ich, und schwupp, sitze ich auf einer Hotelterrasse am Bodenseeufer, blinzle im Tiischi auf das glitzernde Wasser hinunter und in den fast wolkenlosen Himmel hoch und freue mich wie das berühmte kleine Kind auf das Tüürli.

Richtig los gehts erst morgen, aber zum Einstieg stieg ich heute gegen Mittag schon in Weinfelden aus dem Zug, um die letzten 30 Kilometer auf zwei Rädern zurückzulegen.

Weinfelden – Romanshorn: Das ist die letzte Etappe der „Mostindien-Tour“, und wer nun erwartet, dass ich aufzähle, was ich unterwegs alles gesehen habe, wird nicht enttäuscht (im Lautsprecher rät Philipp Fankhauser gerade, „Let life flow“. Wenn das nicht perfekt zu meinem Hier und Jetzt passt, weiss ich auch nicht, was dann passen soll; „Easy on Sunday morning“ vielleicht, aber am Montag?):

Auf Haupt- und Nebenstrassen fuhr ich an mindestens hundert Landwirten auf Traktoren, einer Million Apfelbäume, zig Nachtlokalen, Wiesen voller Wahlplakate („Renato Forster als Berufsrichter“) und mehreren Fasnachtskostümläden vorbei sowie durch gefühlt sämtliche Kreisel, die je gebaut wurden.

Die Schiffe im Hafen schaukeln sanft dem Winterschlaf entgegen. Touristen sind noch fast keine da. In den Bäumen treffen die Stare letzte Vorbereitungen für ihre Reise nach Afrika. Für die meisten von ihnen scheint dies alles andere als Routine zu sein; sie haben jedenfalls noch sehr, sehr viel zu besprechen.

Das unterscheidet sie – nebst zwei, drei weiteren Punkten – von mir: Ich plane nichts. Wenn alles läuft, wie ich es mir vorstelle, bin ich in plusminus einer Woche in Genf. Die Route führt mich vielleicht von Wil über Baden, Möhlin, Biel und Lausanne, vielleicht aber auch nicht. Übernachtungsmässig lasse ich ebenfalls alles offen.

Wenns nicht so ausgelutscht klingen würde, dass man kaum zu erwägen wagt, es zu sagen, könnte man also sagen: Der Weg ist das Ziel.

Jetzt: „My life“ von Billy Joel.

In Sachen „Kreiselgestaltung“ macht den Thurgauerinnen und -gauern (total gibt es von ihnen 285 000 Stück. Sie leben in über 200 Ortschaften, wobei über als zwei Drittel dieser Dörfer weniger als 1000 Einwohnerinnen und Einwohner zählen. In neun Orten gibt es mehr als 5000 Menschen, aber das nur am Rande und um zu zeigen, dass ich nicht nur finster entschlossen bin, in diesen Tagen den Körper von Grund auf neu zu stählen, sondern auch mehr als nur Willens, den Geist mit möglichst vielen Eindrücken, Erkenntnissen, Zahlen und Fakten zu tunen) übrigens niemand etwas vor.

Manche sind mit Sujets geschmückt, die das Auge dermassen erfreuen, dass man wie ein Häftlimacher aufpassen muss, dass man vor lauter Bestaunen nicht das Abbiegen verpasst.

Aus der Ferne: „First day of my life„. Heute singen alle vom Leben. Das kann nur ein Zeichen sein; ein gutes noch dazu, und hoffentlich nicht nur für mich.