Als ich den Töff vor dem Coiffeursalon in der Burgdorfer Altstadt abstellte, hörte ich gellende Schreie. Ausgestossen wurden sie von einer riesengrossen Dogge. Sie hing mit dem Vorderkörper aus dem Fenster im 2. oder 3. Stock des Hauses nebenan.
Mit seinen Oberschenkeln hielt sich das Tier am Fensterbrett fest. Zurück konnte es nicht mehr. Panisch zappelnd suchte es mit den Vorderpfoten nach Halt in der Luft.
Zwei Leute probierten vergeblich, sich Zugang zur Wohnung zu verschaffen. Die Menschen, die unten standen, wussten, wie das Drama enden wird, und dass sie nichts dagegen würden tun können.
Ich griff, wie viele andere, zum Handy, um die Polizei zu alarmieren. In dem Moment, in dem ich auf das Display schaute, hörte ich, wie der Hund auf dem Boden aufschlug. Den Sturz bekam ich deshalb zum Glück nicht mit.
Wenig später waren zwei von der Kapo aufgebotene Stadtpolizisten vor Ort. Dann holte jemand von einer Tierarztpraxis den toten Vierbeiner ab.
In der Nacht auf heute schlief ich keine Sekunde. Mein Gehirn zeigte mir immer und immer wieder den Film des Unglücks.
Etwas Schrecklicheres habe ich ausserhalb von Kinosälen und fernab meiner TV- und Computerbildschirme noch nie gesehen. Es war wie in einem Albtraum – nur, dass man aus Albträumen in der Regel erwacht, wenn die Katastrophe passiert.
Im richtigen Leben war das gestern nicht der Fall.
Es war der perfekte Sommerlochfüller: Am Steuer eines Privatflugzeuges drang Bundesrat Alain Berset am 5. Juli in französisches Hoheitsgebiet ein. Kampfjets der Armée de l’air et de l’espace zwangen ihn zur Landung.
Noch bevor sie die für sie heiligen sieben W-Fragen („Was genau ist wann wo wie wegen wem warum passiert und und woher stammen die Informationen?“) beantworten konnten, machten sich helvetische Medienschaffende daran, diese Nachricht nach allen Regeln der Kunst auszuschlachten.
Die Redaktionen entsandten Rechercheure auf den Flugplatz, von dem aus der Magistrat gestartet war („…ausplaudern will niemand etwas. Ganz im Gegenteil. Man tut so, als hätte es den ominösen Flug nie gegeben.“), fragten Kommunikationsexperten um Rat («Der Eindruck, der bleibt, ist: Da stimmt etwas nicht.») und unterhielten sich mit Politikerinnen und Politikern. Der aus Film, Funk und Fernsehen bekannte Strafrechtsexperte und Ständerat Daniel Jositsch urteilte: „Es gibt da wirklich nichts zu verteidigen.“
Das Tagblatt warf Berset vor, immer wieder „Zeit für allerlei zusätzliche Beschäftigungen“ zu finden: „Er handelt mit Kryptowährungen. Er fährt mit einer Geliebten in den Schwarzwald. Und seit dieser Woche wissen wir auch, dass Berset ein leidenschaftlicher Pilot ist.“ Es empfahl dem „No risk, no fun“-Bundesrat: „Wenn er nicht abstürzen will, muss er jetzt zum Landeanflug ansetzen.“
Die Weltwoche analysierte, Berset habe sich „mit seiner Flug-Eskapade eine Blösse zu viel“ gegeben. Die SP sei wegen ihres prominentesten Mitgliedes „in eine Art Schockstarre gefallen“, die Landesregierung „befremdet“ und Berset „noch erpressbarer“ geworden.
Die Sonntagszeitung verglich den Bundesrat mit dem Starpiloten aus den „Top Gun“-Filmen und illustrierte ihre steilen Thesen mit einer wahnsinnig originellen Fotomontage:
Die NZZ orakelte: „Vielleicht wollte Berset, der während der Pandemie enorm belastet war. kürzlich einen Vertrauten verlor und um die AHV-Revision fürchten muss, einfach etwas Luft ablassen. Vielleicht war er abgelenkt. Vielleicht hat er den Flug ungenügend vorbereitet. Vielleicht hat er die Franzosen nicht ernst genommen. Und man fragt sich: Hat der Mann zu viel Druck?“, während die „Weltwoche“ enthüllte: „Berset flog auch mit Geliebten.“
Quer durch den ausgedünnten Blätterwald und das weitverzweigte Online-Kanalsystem wurden Fakten aufs Geratewohl hin mit Vermutungen verdünnt und Mitteilungen hemmungslos mit Meinungen vermischt. Wenn ich das richtig überblicke, verlangte niemand explizit Bersets Rücktritt. Das war aber auch nicht nötig: entsprechende Forderungen quollen auch so zwischen den vielen, vielen Zeilen hervor.
Doch dann – quasi aus heiterem Himmel – war die warme Luft draussen: Wie die Sonntagszeitung in ihrer letzten Ausgabe schrieb, belegen Aufzeichnungen, dass die französischen Luftraumüberwacher Berset unter der Flugzeug-Kennzeichnung HB-TOR angefunkt hatten. Tatsächlich trug seine Kleinmaschine aber den Namen HB-TDR. Deshalb reagierte Berset auf den Landebefehl, wie ein Fritz reagiert, wenn zehn Meter neben ihm jemand zu jemandem „Tschou Pesche“ sagt.
Eigentlich, denkt man, wäre vonseiten der „Vierten Gewalt“ jetzt eine Entschuldigung fällig. Ein simples „Sorry, Herr Berset“ oder „Excusez, monsieur conseiller fédéral“ würde angesichts der Ansprüche, die manche Leute – zum Teil völlig zu Recht – inzwischen an die auf Klicks fokussierten Medienschaffenden stellen, genügen.
Mässig überraschenderweise ist jedoch nichts dergleichen geschehen. Stattdessen zieht die Karawane weiter und freut sich händeringend darauf, die nächste Sau durchs Dorf zu jagen.
Sonntag, 27. Juli, gegen 11 Uhr: Falls sich irgendwo jemand fragen sollte, wo die Zutaten für den Sonntagsbrunch sind: sie stehen – natürlich nachlassend frisch – auf dem Perron 1 des Aarauer Bahnhofs.