Heimsuchung

Kaum ist man aus Reinach im Wynental ausgewandert, trifft man an seinem neuen Wohnort weneliwen? Den Turnverein aus dem damaligen Nachbardorf Gontenschwil. Darunter: Höbu, der Partner des superflotten Bürogspändlis Karin Huber, mit dem man vor 40 Jahren beim Wynentaler Blatt zusammen“gearbeitet“ hatte.

Tags zuvor waren die Herren ins Emmental eingefallen. Erst besuchten sie die Schaukäserei in Affoltern, dann kurvten sie mit E-Trottis durch die Gegend und übernachteten schliesslich in der Jugi auf dem Schloss. Die Turnfahrt liessen sie bei einem Apéro in der Minigolfanlage ausklingen.

Herzrasen und Hühnerhaut

Bis kurz vor Sonnenuntergang war der 2. September 2021 ein Tag wie jeder andere. Doch dann stand die Erde für unzählige Menschen auf einmal still: In London gaben Benny Andersson und Björn Ulvaeus, die zwei Köpfe von Abba, bekannt, dass sie mit Agneta Fältskog und Annifrid Lyngstad ein neues Album aufgenommen hätten. «Voyage» heisse es, und werde am 5. November erscheinen. Zum Beweis dafür, dass sie es ernst meinen, veröffentlichen die Schweden gleichzeitig zwei Muster.

Mein erster Gedanke war, mir die Lieder sofort anzuhören, am liebsten die ganze Nacht lang. Neues Material von Abba: Ebensogut hätte Wolfgang Amadeus Mozart leibhaftig ankündigen können, an einer Fortsetzung der «Zauberflöte» zu arbeiten oder Michelangelo Buonarroti via Facebook bekanntgeben, er bemale nächstes Jahr den Taj Mahal.

„Abba“ hiess für mich immer: alles ist oder kommt in Ordnung – auch wenn einige ihrer Werke («The day before you came», «The winner takes it all») zum Traurigsten gehören, was die an tristen Tönen und Texten nicht arme Popgeschichte hervorgebracht hat.

Irgendwo im Internet schrieb einst jemand, Abba sei „a once in a lifetime happening“, und er oder sie sei „so glad that it was during mine.“ Wenn ich auf eine Formulierung neidisch bin, dann auf diese.

Im zarten Alter von 12 Jahren nötigte ich meine Mutter – also: Mamma mia -, sich mit mir in einem Kino in Aarau „Abba – The Movie“ anzusehen. Wenige Wochen später erlebte ich Abba bei ihrem einzigen Schweizer Konzert im Zürcher Hallenstadion. Drei Jahrzehnte danach glaubte ich, gestorben und im Himmel gelandet zu sein, als Annifrid Lyngstad mich an einem Zweiertisch in meinem bumsvollen Stammbeizli in Freiburg fragte, ob der Platz gegenüber noch frei sei.

Ich sah „Chess“ in vier Städten, flog mit meinem Brüetsch nur für „Mamma Mia“ nach London, las über die Band, was mir in die Finger kam, und studierte – vergeblich – wissenschaftliche Abhandlungen, um zumindest halbwegs ergründen zu können, worin die Magie ihrer Musik besteht.

Diese wunderschönen Erinnerungen hielten mich bis heute Morgen davon ab, mir die neuen Lieder zu Gemüte zu führen. Ich hatte Angst, dass etwas in mir kaputtgehen könnte, wenn die Songs nicht exakt dem entsprechen würden, was ich mit Abba verbinde.

Erinnerungen haben viel mit Abba zu tun – und umgekehrt. In der „Zeit“ notierte Dirk Peitz:

„Die Erinnerung ist wohl der Preis, den man als Erwachsener für die Vertreibung aus dem kindlichen Paradies der Ahnungslosigkeit und die immer weiter in die Ferne rückende Erfahrung des Jungseins zahlt: als alles gerade noch neu schien und leicht und gut. Die grosse Kunst der Popgruppe Abba war, dass sie in ihren Songs genau dieses Gefühlsmischmasch zum kollektiv geniessbaren Erlebnis machte.“

Und weiter: „Eigentlich hoben die Lieder dieser Band die Zeit auf. Für drei, vier Minuten schienen einem Empfindungen plötzlich nah, von denen man glaubte, dass man sie einmal gehabt haben musste. Und wenn nicht: dass man sie gerne haben würde und ja tatsächlich dann auch hatte.“

Heute Morgen tat ich es nun doch. Theoretisch, dachte ich, könnte es ja sein, dass ich die Songs irgendwann am Radio höre. In dem Fall wäre es sicher besser, darauf vorbereitet zu sein, als die Umsitzenden fragen zu müssen, „das klingt noch gut. Von wem ist das?“, und als Antwort zu vernehmen, „von Abba. Waterloo. Siebziger. Musst du nicht kennen.“

Als Erstes wagte ich mich an „I still have faith in you“:

Nach fünf Akkorden lösten sich meine Befürchtungen in Luft auf. 40 Jahre, nachdem sie mit „Under Attack“ ihre letzte Single veröffentlicht hatten, schenken Abba der verängstigten, frustrierten und zunehmend verbitterten Menschheit eine zeitlose Hymne an die Freundschaft und die Liebe, die zwischen Hühnerhaut und Herzrasen alles auslöst, was der Körper und das Gemüt an Reaktionen zu zeigen imstande sind.

In „Don’t shut me down“ grüssen sie erst ihre „Dancing Queen“. Was folgt, ist eine Hommage an längst vergangene Zeiten in trockeneisumwaberten Discos samt jenem kaum wahrnehmbaren Schatten der Melancholie und Vergänglichkeit, der über fast jedem Abba-Song schwebt.

Mit einer halben Milliarde verkaufter Schallplatten, zig Millionen Musical-Besuchern und als Inhaber der Rechte an Dutzenden von Hits, die rund um die Uhr von Radios, DJs und Musikgesellschaften gespielt werden, wurde die Band im Laufe der Dekaden zu einem global agierenden Konzern.

Doch hinter ihrer Musik eine geschäftliche Strategie zu erkennen, ist zumindest dem Laien unmöglich. Weder das majestätische „I still have faith in you“ noch das flockige „Don’t shut me down“ lassen vermuten, dass sich vier Musikerinnen und Musiker zusammengesetzt hätten, um im Herbst ihres Daseins auf Teufel komm raus noch einmal etwas Besonderes zu produzieren.

Wie alles, was die beiden Männer komponierten und deren frühere Ehefrauen sangen, kommen auch ihre jüngsten Würfe mit einer Leichtigkeit daher, die in einem extremen Widerspruch zu den hochkomplexen Melodien und Harmonien steht, aus denen sie zusammengesetzt sind.

Experten streiten sich seit Jahrhunderten ergebnislos darüber, ob Mozart – dessen Oevure über weite Strecken ebenfalls wie aus dem Ärmel geschüttelt wirkt – gewusst habe, dass er ein Genie war. Eine ähnliche Debatte liesse sich über Abba nicht führen. Benny Andersson und Björn Ulvaeus dürften sich sehr im Klaren darüber sein, was sie können, und welche Tonfolgen die Glückshormone von alleine dazu bringen, die Seelen ihrer Zuhörerinnen und Zuhörer zu fluten.

Dennoch schufen sie auch ihre neusten Wunder spürbar nicht nach Konzepten und Rezepten. Sondern, wie ehedem in ihrer Hütte vor der schwedischen Küste: schlicht und einfach the way old friends do.

„Ich habe doch auch ein Leben.“

(Bild: Sabine van Erp/Pixapay)

Am Nebentisch: Zwei ältere Damen. Die eine sass schon ein Weilchen da. Die andere setzte sich später dazu. Sie kennen einander, scheinen sich aber länger nicht mehr gesehen zu haben. Sie reden über Corona, das Wetter und eine Abdankung. Dann fragt die eine:

„Und sonst?“

„Was soll ich sagen? Nicht so gut. Es wird immer schlimmer.“

„Wieso?“

„Sie musste wieder ins Spital.“

„Ui. Wie alt ist sie jetzt?“

„91.“

„Doch schon.“

„Ja.“

„Das hättest du auch nicht gedacht, dass du…“

„Jesses, nein. Aber was wosch?“

„Oh je.“

„Ich war ehrlich gesagt noch froh, musste sie ins Spital. Es war ja nichts Schlimmes, nur wegen dem Fuss. Manchmal wird es mir einfach zuviel.“

„…“

„Ich bin die einzige, die zu ihr schaut. Eigentlich mache ich nichts anderes mehr.“

„…“

„Einkaufen, putzen, herumfahren, vorkochen, Wäsche, vorlesen. Einfach alles.“

„Phuu.“

„Ich habe doch auch ein Leben.“

„Ja, klar. Und er?“

„Ist seit März im Heim. Senevita.“

„Wenigstens das.“

„Ja, wenigstens das.“

„…“

„Und deine Schwester?“

„Irene? Chasch dänke.“

„Hilft sie nichts?“

„Nenei. Nie.“

„…“

„…“

„Weisst du, was das Schlimmste ist?“

„Das wegen dem Heim?“

„Nein, das ist schon gut. Das war ja klar.“

„Stimmt, das hast du gesagt.“

„Das Schlimmste ist: Als sie wieder aus dem Spital kam, sagte sie, jetzt wolle sie ein bisschen weg.“

„Heieieiei.“

„Sie wollte unbedingt nach Italien. Weisch, in das Hotel, in dem sie mit ihm immer war. Ich dachte, gut, dann gehen wir halt nach Italien. Im Hotel schauen die Leute sicher zu ihr. Vielleicht tut mir so chly Pause ja auch gut.“

„Ja, klar.“

„Aber weisst du, mit wem sie dann nach Italien ging?“

„Keine Ahnung.“

„Mit Irene. Sie hat ihr alles bezahlt.“

Schwein gehabt

Nein: Das ist keine Schleichwerbung.

Sondern nur der Versuch, das feinste Schweinskotelett, das ich je geniessen durfte, für die Nachwelt zu konservieren. Serviert wurde es mir im Restaurant Serendib in Burgdorf.

Biobombe auf dem Balkon

Donnerstag, 26. August 2021, 14.03 Uhr: Aus heiterem Himmel telefoniert mir die beste Floristin der Welt. Bei ihr habe sich soeben jemand von einem Bundesamt gemeldet, sagt sie. Der Mann habe sie gebeten, ihm die Koordinaten jenes Kunden zu geben, dem sie neulich einen Topf Rosmarin geliefert habe. Dieser Kunde sei ich. Worum genau es gehe, wisse sie nicht. Möglicherweise sei die Pflanze krank. Vielleicht handle es sich aber auch nur um einen Scherzanruf. Selbstverständlich dürfe sie ihm meine Kontaktdaten übermitteln, antworte ich.

Donnerstag, 26. August 2021, 14.31 Uhr: Die Floristin leitet mir eine Mail weiter, die ihr ein Mitarbeiter des Fachbereichs Pflanzengesundheit und Sorten des Bundesamtes für Landwirtschaft soeben geschickt hat:

Donnerstag, 26. August 2021, 18.29 Uhr: Anruf eines Mitarbeiters des Fachbereichs Pflanzengesundheit und Sorten des Bundesamtes für Landwirtschaft des Eidgenössischen Departementes für Wirtschaft, Bildung und Forschung. Offenbar pressierts. Ob er morgen bei mir vorbeikommen könne, begehrt er zu wissen. Klar, sage ich; um 9 wäre tiptopp.

Freitag, 27. August 2021, 9.10 Uhr: Der Inspektor ist da.

Er schaut sich die Pflanze kurz an und beschliesst, sie gleich mitzunehmen. Während er Papier- und Onlineformulare ausfüllt, berichtet er, dass das Kraut aus einer Zucht in Portugal stamme. Die Krankheit, welche es möglicherweise (es gilt die Unschuldsvermutung) befallen habe, richte besonders in Süditalien verheerende Schäden an jahrhundertealten Olivenbäumen an. In der Schweiz seien primär Apfelplantagen und Rebberge betroffen. Miteinander zerren wir das Grünzeug aus dem Kübel. Der Fachmann verstaut es in einem Ghüdersack.

Das Prozedere hat irgendwie etwas Unwürdiges. Erst vorgestern benutzte ich diesen Rosmarin noch, um 5 Liter Bolognese-Sauce zu verfeinern. Deshalb frage ich den Experten, ob ich nun eine Rückrufaktion starten müsse. Immerhin handle es sich bei der Xyllella Fastidiosa laut der Website seines Amtes um ein hochgefährliches Bakterium.

Neinnein, sagt der Wissenschaftler; Menschen bräuchten sich deswegen keine Sorgen zu machen. Zum Abschied händigt er mir ein Papier aus, auf dem er bestätigt, meinen Rosmarin im Namen der Schweizerischen Eidgenossenschaft beschlagnahmt zu haben. Mit diesem Dokument kann die Floristin für mich im Frühling eine Ersatzpflanze beziehen.

Nachtrag 15. September 2021, 11.30 Uhr: Der Wissenschaftler ruft an und teilt mit, die Pflanze sei „nicht krank“ gewesen.

Nachtrag 20. September 2021: Die Geschichte wirft Wellen bis in den Aargau.