Krimineller Zeitensprung

Als der „Tatort“ von gestern Abend zum ersten Mal ausgestrahlt wurde, war ich elf und Gerald Ford Präsident der USA. Mit der Concorde düste das erste Überschallflugzeug durch die Luft. Grossbritannien und Island beendeten den Kabeljaukrieg.

Schon nach wenigen Minuten fühlte ich mich, als ob ich durch ein Loch in der Zeit fallen würde: Ein Mann stand in einer Telefonkabine, in einem Restaurant wurde geraucht. Auf den Schreibtischen lagen Notizblöcke. Niemand sprach von einem „Profil“ oder davon, dass man „erstmal die DNA-Analyse abwarten“ müsse („und das kann dauern“).

Im Zentrum des Geschehens standen Italiener und Türken (oder kurz: „Itaker“, wie sich das ermittelnde Personal – das damals noch nicht so sozial verkrüppelt war wie manche Kommissarinnen und Kommissare von heute – ausdrückte), welche als „Gastarbeiter“ in einem Wohnheim lebten. Die wenigen Frauen, denen das Drehbuch Sprechrollen zugetraut hatte, servierten, kochten und übersetzten.

Die Geschichte floss mit der Trägheit flüssigen Honigs dahin. Schnelle Schnitte, abrupte Brüche, überraschende Wendungen, ausgeklügelte Licht- und Toneffekte: Was für die Filmschaffenden dieses Jahrtausends selbstverständlich ist, steckte 1976 noch nicht einmal in den Kinderschuhen.

Trotzdem (oder gerade deshalb) wirkte der Streifen in seiner gesellschaftlichen Antiquiertheit und mit all dem Zubehör, das längst aus unserem Alltag verschwunden ist, auf mich dermassen faszinierend, dass ich vor lauter Staunen gar nicht dazukam, der Handlung zu folgen, und deshalb immer noch nicht weiss, wer Francesco ermordete, und ob Murat und Eva amänd nicht doch wieder zueinanderfanden.

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