Nullersteine, Mitleser und Wein aus dem Karton

Dreieinhalb Stunden dauert die Zugfahrt von Burgdorf nach Locarno. Was passiert in dieser Zeit?

17.53 Uhr: Die Züge nach Olten seien um diese Zeit nur mässig ausgelastet, hatte die SBB-App versprochen. In „meinem“ Wagen sind dessen ungeachtet nur zwei Sitze frei. Den einen belege ich, der andere bleibt leer. Acht Mitreisende stehen lieber, als neben einem Dunkelhäutigen Platz zu nehmen (Nachtrag 30 Sekunden später: Das kann aber auch nur mit der Alkoholfahne des Mannes tun haben).

18.30 Uhr: Eigentlich müsste der Zug, der mich in die Zentralschweiz bringen soll, jetzt losfahren. Er hat aber vier Minuten Verspätung. Zig Umstehende zücken panisch ihre Handys, um die Lieben daheim darüber zu informieren. Ich mag mir nicht vorstellen, in wie vielen Küchen in diesem Moment unter wüsten Verwünschungen Pfannen vom Herd gerissen werden. Mir bietet sich die willkommene Gelegenheit, mich endlich einmal mit dem berühmten „Stunde-Null-Stein“ zu beschäftigen. Es ist schon erstaunlich: 51 Jahre lang lebte ich im festen Glauben, er heisse „Kilometer-Null-Stein“. Aber oha. Das ändert natürlich alles.

18.55 Uhr: Die Frau gegenüber ist eingeschlafen. Sie schnarcht mit sperrangelweit geöffnetem Mund und ähnelt ein bisschen dem Gotthard-Nordportal. Es ist wie bei einem Unfall auf der Autobahn: Man sollte nicht hinschauen, tuts aber, mit einer Mischung aus Faszination und Grauen, trotzdem.

19.25 Uhr: Wir haben Luzern verlassen. Mit „Meddle“ von Pink Floyd in den Ohren rausche ich durch die inzwischen stockfinstere Nacht. Ab und zu rast ein Bahnhöfli vorbei und manchmal ein Dorf. Für einen Kaffee würde ich jetzt zehn Franken bezahlen, aber da ist kein Wägeli weit und breit (und übrigens auch kein Kondukteur. Ich frage mich, wofür ich vor ein paar Monaten sehr viel Geld für den Swisspass ausgegeben habe. Bis heute wollte kein Mensch ihn je sehen).

19.46 Uhr: Arth-Goldau. Hier hat ein Hirsch meinem Grossvater einst einen kompletten Futtersack aus der Manteltasche geklaut, und am See gibts ein nettes Beizli. Weiter.

19.54 Uhr: Der gragletvolle Zug – ein italienisches Modell – setzt sich ruckelnd in Bewegung. Von aussen sah er topmodern aus; innen ist er ziemlich naja. Drei Toiletten sind caputo, die anderen besetzt.

20.01 Uhr: „Ja…ja…ja…ja…ja…ja…ja…ja…ja…ja…ja……ja…du auch. Tschü-üss.“

20.18 Uhr: Neben mir sitzt ein Senior, der seit der Abfahrt in Arth-Goldau auf meinen Bildschirm starrt. Wir haben noch kein Wort miteinander gesprochen, weshalb ich nicht weiss, ob er Deutsch versteht oder nicht. Falls ja: „HALLO, SIE! JA, SIE MEINE ICH! IST ES WIRKLICH SO INTERESSANT, ANDEREN LEUTEN BEIM SCHREIBEN ZUZUSEHEN?!? ICH WILL IHNEN WIRKLICH NICHT ZU NAHETRETEN, ABER ICH FINDE DAS EIN BISSCHEN UNHÖFLICH. Danke für Ihr Verständnis.“

20.27 Uhr: Russen Polen Tschechen Leute, die ihre Wurzeln weit rechts vom Appenzellerland haben, bechern Rotwein aus dem Tetrapack. Das kann nicht gut kommen, irgendwie.

20.28 Uhr: Der Senior neben mir ist entweder wirklich nicht des Deutschen kundig oder ein besonders dreister Zeitgenosse. Er liest jedenfalls unbeirrt mit.

20.38 Uhr: Unmittelbar, nachdem wir aus dem Tunnel gefräst sind, fällt ein Koffer aus der Ablage. Heiterkeit im Wagen (ämu bei jenen, dies mitbekommen haben. Die Osteuropafraktion hats auch so lustig).

20.47 Uhr: In Bellinzona sehe ich die ersten Eingeborenen:

Weiter gelingt es mir, einen Blick auf das Schloss zu werfen. Meines in Burgdorf ist grösser und schärfer.

21.28 Uhr: Locarno. In der Sonnenstube ist der Boden nass. Aber die Frisur sitzt.

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