Er ist so frei

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Der Abend beginnt mit etwas Nigelnagelneuem („Broken Bones„, 2015)) und endet mit etwas Steinaltem („Going home„, 1983), und natürlich gibts zwischendurch ausreichend Gelegenheiten, um in Erinnerungen zu schwelgen. Das ist in erster Linie den „Sultans of Swing“ zu verdanken, und „Romeo and Juliet“, und als der „Speedway at Nazareth“ kurz vor Schluss in die „Telegraph Road“ mündet, die direkt in die Schützengräben führt, in denen „So far away“ die „Brothers in arms“ kauern, ist es fast so wie früher, aber eben: nur fast.

Ganz so wie früher wirds ohnehin nie mehr werden, wenn Mark Knopfler mit Guy Fletcher, Richard Bennett, Jim Cox, Mike McGoldrick, John McCusker, Glenn Worf und Ian Thomas um die Welt reist. Die Zeiten, in denen seine Konzerte wie Live-Darbietungen von Greatest-Hits-Sammlungen der Dire Straits klangen; jener vokuhilafrisierten und dauergewellten Softrockertruppe, die 1977, in der Hochblüte des Punk, aus dem Nichts riesengross wurde und in den folgenden 20 Jahren rund 120 Millionen Platten verkaufte – sie sind vorbei.

Die einen freuts, die andern reuts: Wenn Mark Knopfler heute seine „Private Investigations“ anstellt, geht es ihm nicht mehr darum, weiteres „Money for nothing“ zu scheffeln. Für den 65-Jährigen zählt nur noch, mit der Gitarre in der Hand und seinen Jungs um sich herum sein eigenes Glück zu finden. „Glück“ wiederum definiert der gebürtige Schotte längst nicht mehr über Zuschauerzahlen, Journalistenlob oder Chartsplatzierungen.

„Das Wichtigste ist für mich, dass ich mich noch begeistern kann. Wenn ich zur Probe komme und die Instrumente sehe, die dort darauf warten, dass sie sich jemand greift und losspielt – dann ist das immer wieder aufregend, stimulierend“, sagte Knopfler drei Wochen vor dem Gig in Zürich in einem sehr lesenswerten Interview mit dem Tagesanzeiger.

Anders als in seinem ersten Leben als Superstar sehe er sich inzwischen als „Fährtenleser, der versucht, die Spuren der Zeit zu erfassen“, denn „in meinem Alter erhält man eine andere Sicht auf die Zeit und das Leben“.

Ihm auf dieser Spurensuche im von vorne bis hinten durchgestuhlten, keimfreien, irgendwie kalten und für derlei Abenteuer folglich nur mässig geeigneten Hallenstadion zu folgen, bereitet dem einen und anderen Zuschauer, der mit dem Namen „Mark Knopfler“ immer noch

epische Sechsaitensoli

verbindet, etwelche Mühen. Der Applaus wirkt oft eher höflich als enthusiastisch, wobei: der Phase, in der es en vogue war, seiner Begeisterung mit frenetischem Kreischen, rhythmischem Stampfen und dem Inrichtungbühnewerfen von Unterwäsche Ausdruck zu verleihen, sind die allermeisten der Anwesenden schon entwachsen, als in Berlin noch die Mauer stand.

Statt die Post mit allerlei synthetischen Hilfsmitteln abgehen zu lassen, verschickt Knopfler heute lieber von Hand geschriebene Karten aus Paraguay. Wo im letzten Jahrtausend Melodien waren, die jeder Teenager aus dem Stand nachpfeifen konnte, säuseln heute irische Flöten durch den Raum, und was sich damals wie von selber ins Ohr schlängelte, muss nun erst umständlich durch die Gehirnwindungen kriechen, bis es als das erkannt werden kann, was es ist: grossartige Musik.

Knopfler hat offenkundig nicht vor (und es auch ganz bestimmt nicht mehr nötig), dem Publikum seine Virtuosität ständig aufs Neue zu beweisen. „Am Ende springt meist eh der ganze Saal auf und ab“, sagt er mit der ihm eigenen Lakonie.

Längst erlöst von den wirtschaftlichen Fesseln und kommerziellen Zwängen, die seine Kreativität zu Dire Straits-Zeiten von Album zu Album mehr zu ersticken drohten, geniesst er auch in Zürich die Freiheit, die hohen Erwartungen seiner Getreuen mit unerwarteten Stilbrüchen, überraschenden Tempiwechseln und sperrigen Harmonien ein ums andere Mal unterlaufen zu dürfen ohne befürchten zu müssen, dafür niedergepfiffen zu werden.

Nur zwischendurch schiesst er aus dem Handgelenk zwei, drei Töne oder ein paar Akkorde wie Laserstrahlen in das mit den Lichtlein von zig Handykameras gesprenkelte Dunkel vor ihm ab. Es muss ihm grosses Vergnügen bereiten, zu wissen, dass in diesen Momenten zehntausend Menschen mit der Luftgitarre im Anschlag auf sehr viel mehr warten…und ihnen stattdessen „nur“ das zu geben, was er will: etwas mit Panflöten zum Beispiel, oder einen Kontrabasslauf, oder eine Zithereinlage.

Wer sich darauf einlässt, wird belohnt. Vor dessen innerem Auge blühen sattgrüne Landschaften, in dessen Nase sticht der Geruch von feuchtem Moos, und irgendwo, in der Ferne, hört er stahlgraue Wellen mit derselben Gleichmütigkeit an schroffe Kalksteinwände schlagen, mit der Mark Knopfler sich und sein Publikum zwei Stunden lang rundumentschleunigt.

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Stadtbilder (45)

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Kunst am Brunnen: Der süüferli aufgeschichtete Altpapierstapel auf dem Burgdorfer Kronenplatz hat irgendwie etwas Liebevolles an sich.

Die Weite in der Nähe

Pfingsten 2015: Während die halbe Schweiz am Gotthard steht, gönne ich mir ein Flyerfährtli auf die Lueg und zurück. Nach zwei Minuten radeln habe ich die Stadt hinter mir gelassen. Die Morgensonne streicht über die endlosen Hügel des Emmentals.

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Ein stierisch gmögiger Pfundskerl

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(Bild: Schatz)

Wir haben uns schon einmal gesehen, Fors vo dr Lueg und ich, und zwar genau am Sonntag, dem 1. September 2013, wobei: ich sah damals, als er durch die Emmental-Arena des Eidgenössischen Schwing- und Älperfestes in Burgdorf geführt wurde, ungleich mehr von ihm als er von mir, und ziemlich sicher war ich von ihm auch deutlich stärker beeindruckt als umgekehrt. Er war in jenen Minuten der grosse Star, während ich im Sektor X in Reihe Y unter über 50 000 Menschen höckelte und röchelnd von meinem Sitz hätte fallen können, ohne, dass das jemandem aufgefallen wäre.

Aller Augen waren auf ihn gerichtet, und wäre er damals tot umgekippt oder durchgebrannt: auf der Medientribüne hätten die Dutzenden und Aberdutzenden von Sport- flugs durch Katastrophenberichterstatter ersetzt werden müssen, und noch in grob geschätzt 483 Jahren würden die Menschen, wenn sie über das ESAF in Burgdorf reden, vollautomatisch eine Schweigeminute einlegen, um ihm oder all jener zu gedenken, die damals in den ersten Reihen sassen und beim „Muninferno“ (wie der „Blick“ auf der Frontseite seiner 16seitigen Sonderausgabe titelte) flach herausgekommen waren.

Nun trafen wir uns wieder, und zwar wars – ich glaube, das ist genau das, was uns verbindet und die sozusagen in Sägemehl gegossene Basis unserer Beziehung darstellt – erneut an einem Schwinganlass; genauer: am „Oberaargauischen“ in Seeberg-Grasswil. Ich begleitete meinen Schatz, er den amtierenden Schwingerkönig, und als wir uns unter dem mit grauen Wolken verhangenen Himmel zum ersten Mal überhaupt direkt in die Augen blickten, wussten wir in derselben Sekunde mit absoluter Gewissheit: gleich beginnts zu regnen.

Er hatte, fand ich, ein bisschen abgenommen in den letzten Monaten. Das mag einerseits daran liegen, dass er als Eidg. Siegermuni ziemlich viel Arbeit hat, und andrerseits daran, dass er nebenbei noch als Model arbeitet. Fors ist mittlerweile mehrfacher Vater und amtierender Mister Thun. Oesch’s die Dritten, die wohl berühmteste Volksmusiktruppe der Schweiz, haben ihm, den potentesten Promi zäntume, sogar ein Lied auf den rund eine Tonne wiegenden Leib geschrieben:

Doch er nimmt den Rummel, der bisweilen um ihn herum veranstaltet wird, gelassen. Ohne Extrawürste zu verlangen, geniesst er seine Freizeit mit einigen Artgenossinnen und einem Haufen Truthähne auf dem Thanhof von Simon Hertig, dem Cousin von Schwingerkönig Matthias Sempach, im idyllischen Ranflüh. Ab und zu zeigt er sich an Sponsorenanlässen. Zweimal pro Woche geht er zum Samenspenden. Letzteres ist für ihn mit mehr Arbeit verbunden, als mann vielleicht denkt.

Einmal hat die „Schweizer Illustrierte“ ihn auf die Büez begleitet. Als der Reporter seine Eindrücke anschliessend in Worte zu packen versuchte, muss ihm selber fast ein Schuss abgegangen sein: „Tierpfleger Leo Grünenfelder lässt ihn zweimal einen anderen Stier von hinten bespringen – Blindsprünge. Jetzt ist Fors giggerig genug – auf gehts zum Finale! Zum Absamen, wie es unter Fachleuten heisst. Breitbeinig nimmt Fors Stellung vor dem Bock, schnaubt und grunzt. Und springt! Der Oberkörper bleibt oben, innert Sekundenbruchteilen folgt ein Nachsprung – die Hinterbeine in der Luft. Leo Grünenfelder reagiert blitzschnell. Er weiss genau, in welchem Augenblick er den Samen mit der 41 Grad warmen ‚künstlichen Vagina‘ abzapfen muss. Im nächsten Augenblick steht Fors wieder auf allen vieren. In einer Stunde ist er nochmals an der Reihe. Dann ist Feierabend!“

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50 Franken kostet eine Dose „Fors flüssig“, und wenn der Pfundskerl auf diese Weise, wie geplant, tatsächlich 8000 Kälbchen zeugen würde, käme eine schöne Stange Geld zusammen. Doch Fors wäre nicht Fors, wenn er das alles für sich behalten würde. Er und sein Chef spenden fünf Franken pro Büchse an Nachwuchsschwinger und eine Organisation, die sich um Kinder in der Schweiz kümmert.

Das alles und noch viel mehr ging mir durch den Kopf, als wir in Seedorf nebeneinander standen. Nicht ohne Ehrfurcht und mit allem gebotenen Respekt beugte ich mich ein bisschen zu ihm hinunter, um unser Treffen für die Nachwelt mit einem Selfie zu dokumentieren. Als unsere Augen auf derselben Höhe waren, stupste er mich mir seinem linken Horn leicht an. Es war, als ob er mir auf diese Weise hätte sagen wollen: „Du bist gerade dabei bist, vor allen Leuten ein Bild von dir und einem Stier zu schiessen. Ist dir das wirklich ernst?“

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