Aller Anfang ist ein Couvert, vielleicht

„Fast ein Gutschein“, steht auf dem Couvert, das der junge Mann um 6.45 einer der drei Kassierinnen im Laden beim Solothurner Bahnhof schüchtern aushändigt.

Hinter ihm stehen vier Kunden. Er hat keine Zeit für Erklärungen, sie kann oder will nicht fragen, was das bedeute. Sie nimmt das Couvert lächelnd entgegen und legt es neben die Kasse. Man kann durch seine dicke Jacke beobachten, wie sich seine Muskeln im Bruchteil der Sekunde, den sie benötigt, um den Umschlag an sich zu nehmen, entspannt.

Während man darauf wartet, bedient zu werden, überlegt man sich, was wohl in dem Umschlag sein könnte. Und, vor allem: Ob die Verkäuferin und der Kunde einander bereits kennen. Oder ob der Mann die Frau, für die er bisher bloss einer von unzähligen Kunden war, schon x mal an ihrer Kasse hat stehen sehen, sie immer sympathischer fand und nun all seinen Mut zusammennahm, um endlich einen ersten Schritt auf sie zuzumachen. Ob er, wer weiss, gar nichts von der Verkäuferin will, sondern von ihrer Schwester, deren Adresse er nicht kennt.

Vielleicht – irgendwie hofft man das schwer –  sitzen die beiden in, sagen wir: zehn Jahren nebeneinander auf dem Sofa. Während sie ihren zwei Kindern beim Spielen zuschaut, sagt er: „Weisst du noch, damals, mit dem Couvert?“. Sie kuschelt sich an ihn, guckt ihm liebevoll in die Augen und antwortet: „Wenn du das nicht gemacht hättest, wären wir jetzt nicht hier.“

jho

Demnächst, beim Chef

gespräcjhEs ist fast wie vor Weihnachten: Mit fiebriger Vorfreude warten unzählige Menschen in ihren Büros und an ihren Maschinen darauf, hereingebeten zu werden, um sich die Bescherung anzusehenhören. Wie alle Jahre, wenns langsam gegen den Frühling zugeht, naht auch jetzt wieder die hohe Zeit der Qualifikationsgespräche.

Man kann diese Besprechungen nicht ernst genug nehmen: Wann bietet sich den Vorgesetzten schon die Gelegenheit, einem zu sagen, das und das habe man am 17. Mai letzten Jahres gut gemacht und das und das am 18. November dafür ziemlich verbockt, wenn nicht jetzt, Monate später? Wann sonst als in diesem einen Moment haben sie die Möglichkeit, einen zu bitten, chli konzentrierter zu schaffen oder sich ab und zu auch um eher Unangenehmes zu kümmern? Eben. Man sieht sich ja nie in diesen verwinkelten Räumen, in denen sich jeder vom Morgen früh bis am Abend spät in seinem Büro einschliesst; immer darauf bedacht, jeglichen Kontakt zu den Gspändli zu vermeiden.

So sitzt man dann halt alle zwölf Monate einmal dem Chef gegenüber und fragt sich bange, was zum Teufel er auf diesen Formularen alles über einen angekreuzt und notiert hat. Man nickt an strategisch wichtigen Stellen, lässt hier ein „Ja, klar!“ fallen, schüttelt da über sich selber den Kopf, murmelt dort ein schuldbewusstes „Hm…“ und strahlt wie ein kleines Kind, wenn einem der Vorgesetzte zum Abschluss, wie es sich mitarbeitermotivationsfördernd gehört, etwas Positives mit auf den Weg zurück an die Arbeit gibt.

Dann macht man, hochkonzentriert, an der vor dem Gespräch angefangenen Büez weiter und vergisst vor lauter Freude darüber, dass mans überstanden hat, glatt, sich zu überlegen, was genau einem diese Qualifizierung jetzt bringt.

Mehr Lohn? Die Arbeitgeberin hat ihr Personal schon vor Wochen dahingehend orientiert,  dass es sich allfällige Gedanken an höhere Gagen gleich aus dem Kopf schlagen kann; was würden auch die Aktionäre denken.

Eine Beförderung? Wer auf der Karriereleiter eine Sprosse hochklettern will, findet auch ohne Multipltschoissbögen Mittel und Wege und Beziehungen, um sein Ziel zu erreichen. Alle anderen sind einfach froh darüber, ihre Jobs behalten zu können.

Eine bessere Arbeitsleistung Performance? Mag sein. Jeder und jede bemüht sich nach dem Untervieraugen-Termin schliesslich nach Kräften, die Kritikpunkte subito auszumerzen, auf dass sie nächstes Jahr kein Thema mehr sein mögen.

Das heisst: Wenn die Qualifikationsgespräche bringen würden, was sie bringen sollen, wären sie längst überflüssig geworden. Dann wäre alles, wies sein muss. Offensichtlich bringen sie aber nicht, was sie bringen sollten, sonst müssten sie nicht Jahr für Jahr geführt werden.

Also könnte man sie genausogut abschaffen. Und stattdessen – als Chef und als Mitarbeiter – vermehrt versuchen, genau dann zu loben und tadeln, wenn es tatsächlich etwas zu loben oder tadeln gibt. Zur Sicherheit kann mans ja immer noch schriftlich festhalten und von beiden Beteiligten unterschreiben lassen, damit die Verwaltung weiterhin etwas zum Ablegen hat.

 

Saures und Süsses

„Aunty, aunty! Sweeets!“ –  Geht es um Süsses, so verleihen indische Kinder in Trauben ihrer Forderung – getarnt als Bitte, mit breitem Lachen vorgebracht – lautstark Nachdruck. Darin spiegelt sich die Intensität dieser bunten Welt: eine Basis von konstanter Reizüberflutung, der unsere Delegation in diesen Tagen im südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh ausgesetzt ist. Dieser Ort scheint unablässig zu brummen, tagsüber auf den Strassen, auf denen der Verkehr sich nicht vorhandenen Regeln folgend seinen Weg bahnt.

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Funktioniert die Hupe, ist das Fahrzeug fahrtüchtig. Und die meisten Fahrer scheinen sich andauernd davon überzeugen zu wollen, dass sie noch intakt ist. Selbst nachts kennt Indien keine Ruhe, wenn in der Ferne die Güterzüge unterwegs sind. Wenn Vögel zetern, die man tagsüber nicht zu Gesicht bekommt. Wenn sich die Wasserpumpe hinter dem Haus anhört wie ein überholter Dieselgenerator.

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Die Vögel und die Pumpe sind ansonsten Teil einer Oase: Bethany Karunalaya, ein Waisenheim am Rande von Hyderabad, einer Stadt, die mit ihrer Agglomeration so viele Einwohner zählt, wie die ganze Schweiz Einwohner hat. Hier leben fast 60 Kinder mit hinduistischem und muslimischem Hintergrund. Längst nicht alle von ihnen haben beide Elternteile verloren, viele von ihnen sind durch die Lebensumstände hier zu sozialen Waisen geworden: Mausarme Familien und Krankheiten wie HIV prägen ihre Herkunft, sodass sich niemand mehr um sie kümmern konnte. «In Karunalaya», sagt Pater Joseph, «sind alle willkommen – egal, woher sie kommen und woran sie glauben.»

Vater nennen sie ihn, der im Namen der katholischen Mission Order of the Imitation of Christ (OIC) dieses Zuhause führt. Vor sieben Jahren hat er das Land gekauft und die ersten Steine für eine Zufluchtsstätte gelegt: 50 Quadratmeter insgesamt, die Waisenkindern, körperlich und geistig Behinderten, alten und sterbenden Menschen ein Obdach bieten. Mehrere Organisationen aus dem Westen wurden auf Karunalaya aufmerksam, darunter die Zuger Stiftung «Licht für vergessene Kinder». Sie schiesst Geld ein, das dafür verwendet wird, ein neues Haupthaus zu bauen. Dazu kommt ein monatlicher Beitrag, der einen Teil der Nahrungsmittel finanziert.

Karunalaya_2010 011Mit den verbesserten Lebensumständen nimmt Joseph auch nach und nach mehr Bedürftige unter seine Fittiche: Innert weniger Jahre ist die Zahl der Bewohner von 20 auf 80 gestiegen, dazu kommen 11 Bedienstete, die in der Küche, den Schulräumen und den Stallungen nach dem Rechten sehen. «Immer wieder kommen Eltern vorbei, die ihre Kinder abgeben möchten», sagt Joseph. Karunalaya eilt in einer armen Gegend der Ruf voraus, gut abgesichert zu sein. Mit knapp 3500 Franken monatlich bestreitet Joseph heute, was an Kosten anfällt: Essen, Kleidung, Schultaxen, Medikamente, Krankenhausaufenthalte, Löhne, Futter, Benzin und mehr, rechnet er vor. Bei einem nahezu 100-Personen-Betrieb eine kleine Summe.

Karunalaya_2010 029Dieser privilegierte Ort ist denn auch nicht unumstritten. Gute Beziehungen zum Westen wecken Begehrlichkeiten rundum. Im religiösen Schmelztiegel Hyderabad – muslimische Dominanz vor hinduistischer Tradition – spielt auch die Religionszugehörigkeit eine grosse Rolle. Nicht alle sehen es hier gerne, wenn Kinder mit Bibelzitaten, Rosenkranz und Messen aufwachsen und ihnen eine umfassende christliche Erziehung zuteil wird. Nicht wenige von ihnen werden selbst den Weg der Kirche wählen und sich dereinst in den Dienst von anderen stellen. Der katholische Priester selbst ist so einem dauernden Balanceakt ausgesetzt. Im Norden, erzählt man sich, wurden Pater seines Ordens umgebracht.
Karunalaya_2010 153Zudem stellt auch die indische Gesellschaft klare Ansprüche an das Zusammenleben. Das Kinderheim sei daher auch ein eigentliches Mädchenheim, denn gemischte Heime würden nicht toleriert, sagt Joseph. Die wenigen Jungen, die in Karunalaya leben, sind noch sehr klein und müssen früher oder später an andere Orte gebracht werden. Das Kastensystem – es existiert auf dem Papier nicht mehr, wohl aber in den Köpfen – schränkt die Perspektiven der Heimkinder stark ein. Den heiratsfähigen Mädchen eine Mitgift zu entrichten, sei ihm nicht möglich, sagt Joseph. Die Bildung ist ihr Kapital, darin investiert er Geduld, Geld und Zeit.

Ob als Vater seiner Kinder, als geistiger und tatsächlicher Leiter eines KMU: Nachts schläft Joseph wenig, meist nur stundenweise. Die Verantwortung lastet schwer auf ihm. Mit vereinten Kräften wurde über die Jahre in Projekte investiert, die entscheidend zur Existenzsicherung beitragen. In zwei Milchkühe etwa, um die Ernährung der Kinder zu verbessern. In hundert Küken, die grossgezogen werden. In eine Mangobaumplantage, um dem kargen roten Boden rundum wenigstens etwas abzugewinnen. Ein Auto kam dazu. Dann eine Pilzzucht. Ein Nähatelier. Eine Druckerei. Letztere beiden stecken noch in Kinderschuhen, hier fehlen die Mittel. Karunalaya_2010 258

Das Ziel aber steht fest: Karunalaya soll so unabhängig wie nur möglich werden, gegen aussen wie gegen innen.
Zum Abschied stehen die Kinder leise Spalier. Süssigkeiten sind nicht mehr der Rede wert. Stattdessen fliessen Tränen. Auf beiden Seiten.

 

Essen ohne Salz und Pfeffer

Wir unterbrechen das Programm kurz für die Werbung: Am Samstag, 24. April 2010, führt der Verein Mythos im Schlosskeller Burgdorf das zweite Mittelalter-Essen durch. Die Reise in die kulinarische und musikalische Vergangenheit beginnt um 18 Uhr.

Serviert wird ein Menu, das neue Geschmackserfahrungen verspricht: Zum Einstieg gibt es einen Salat an Essig und Rapsöl, als Zwischengang servieren wir eine Gerstensuppe mit grünem Speck, den Hauptgang bilden Schweinsprägu mit Eierspätzli an Kräutern. Ein süsses Gebäck rundet das Essen ab.

Zubereitet wird alles weitestgehend nach Originalrezepten; Salz und Pfeffer und andere heute alltägliche Gewürze fallen also weg.

Zwischen den Gängen erzählt „Ämmefee“ Maja Furer Interessantes, Erheiterndes und Verblüffendes über die damaligen Koch- und Tischsitten. Auch zeitgenössische Unterhaltung fehlt nicht: Lautenspieler Thomas Schall aus Adliswil umrahmt den Anlass musikalisch.

Die Teilnahme kostet pro Person Fr. 65.–.

Anmeldungen nimmt ab sofort hannes.hofstetter@gmx.net entgegen. Wer sich telefonisch einen Platz sichern will:
076 537 74 84.

Der Vetter aus dem Netz

internetvetterBis im letzten Sommer wusste ich gar nicht, dass es ihn gibt.

Dann, ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wieso, vermutlich wars im Zusammenhang mit dem Stationentheater in Burgdorf, erschien er auf einmal auf meinem Radar, beziehungsweise auf meiner Facebook-Seite. Er schickte mir eine Freundschaftsanfrage, oder ich ihm, es spielt, wenn wir schon beim Theater sind, keine tragende Rolle; jedenfalls waren wir dann, wie man auf facebookisch sagt, „befreudet“, was, ebenfalls nach Facebook-Masstäben, nichts bedeuten muss; ich war schon mit Robert de Niro und Dustin Hoffman befreundet, aber kann mir nicht vorstellen, dass die sich in ihrem Hollywood noch immer fast hintersinnen, weil ich ihnen die Freundschaft eines Tages mit einem einfachen Klick gekündigt habe, nachdem sie monatelang nichts von sich lesen und schon gar nichts hören liessen – item: Ich war also plötzlich mit diesem Theaterfan befreundet und schaute dann, wie man das mit Freunden so macht, hin und wieder bei ihm vorbei, wenn auch nur virtuell, und lernte ihn so allmählich chli kennen, wobei das Merkwürdige ist: wenn er in diesem Moment in meine Wohnung spazieren oder mich anrufen würde – ich hätte keine Ahnung, um wen es sich handelt. Er müsste sich mir, seinem Freund, erst vorstellen, damit ich wüsste, mit wem ich es zu tun habe. Ihm ginge es umgekehrt gleich: Er hat mich nie gesehen (wer sagt denn, dass mein Föteli auf Facebook tatsächlich mich zeigt?) und keinen Schimmer, wie meine Stimme klingt.

Was ich weiss, ist: Er heisst wie ich, er schreibt, wie ich, nicht ungerne, er betreibt, wie ich, einen Blog, er schätzt, wie ich, schwarzen Humor, er ist, wie ich, eindeutig ein Anhänger von Zweideutigkeiten und, nicht wie ich, in seiner Wohngemeinde das höchste Tîer weit und breit.

So ist das mit meinem Vetter aus dem Netz. Inzwischen haben wir vereinbart, uns gelegentlich einmal leibhaftig zu treffen. Es war mir vor Meetings mit virtuellen „Bekannten“ schon gschmuucher als in diesem Fall. Vor jenem mit meinem Schatz, zum Beispiel, aber das ist eine gaaaanz andere Geschichte.