Rotz und Wasser ohne Wurst

Forrest Gump hat ja Vieles gesagt, was für die Ewigkeit gilt. Das taten allerdings auch der Dude Lebowsky oder der Pate. Deshalb kann ich den Satz „Manchmal muss ein Mann tun, was ein Mann eben tun muss“ beim besten Willen niemandem zuordnen, was insofern chly blöd ist, als er gleich noch einmal eine Rolle spielen wird.

(Jetzt fällts mir wieder ein: „Manchmal muss ein Mann tun, was ein Mann eben tun muss“ konstatierte John Wayne im Western „Ringo“, und weil man heutzutage ja nichts mehr publizieren darf, ohne dazu mindestens eine Quelle zu nennen: voilà).

Für mich bedeutete das „Was“ an diesem lazy sunday afternoon am Hotelpool gestern: wieder einmal ins Musikarchiv zu steigen, um mit dem Telefonapparat alte Platten durchzuhören, bevor sie meinem Vergessen anheimfallen (nur am Rande: vor nicht allzu Langem hätte ein Teil dieses Satzes noch ähnliche Irritationen ausgelöst wie Marty McFly, als er die Besucherinnen und Besucher eines Schulballs 1955 mit einem Rock’n’Roll-Heuler aus dem Jahr 1959 überraschte).

Auf dem Gang durch die verwinkelten und unterschiedlich gut ausgeleuchteten Flure meiner Vergangenheit stiess ich auf Schätze, die für mich einst die halbe Welt bedeuteten, irgendwann aber nur noch den Wert einer Swissair-Aktie Anfang Oktober 2001 hatten.

„Eve“ vom Alan Parson’s Project, „Wind and wuthering“ von Genesis, „The Kick inside“ von Kate Bush, „Break up the concrete“ von den Pretenders, oder „Premonition“ von Peter Frampton: Heiterefahne, war das eine Freude!

Während ich mich mit den Füssen im Wasser und der Sonne im Nacken durch die Jahrzehnte lauschte, blitzten in meinem Kopf videoclipartig Erinnerungen auf. Den längsten Film spulte das Gedächtnis bei „The battles that you’ve won“ (siehe und höre ganz oben) von Dare ab.

Einverstanden: Zwischendurch – genaugenommen: von A wie Anfangsakkord bis Z wie Zämepacke der Instrumente – klingt das Lied, als ob es von den Hauswänden einer Stadt widerhallen würde, in der the streets have no name, aber ist das eine Generation später wirklich noch von Belang? Eben.

Mit „The battles…“ schufen Dare eine der schönsten Balladen aller Zeiten, obwohl man wegen des Textes Rotz und Wasser heulen könnte, oder vielmehr: auch darum.

1989 veröffentlichte die Band ihr erstes Album „Out of the Silence“. Im Hallenstadion durfte sie es als Vorgruppe von Europe einer grösseren Öffentlichkeit präsentieren. Europe waren damals das Mass aller Rockdinge, also hiess es für Dare nach einer halben Stunde, huschhusch, von der Bühne, und dann ging für mich das grosse Hoffen und Bangen los, denn zwei Wochen vorher hatte mich meine Freundin C. ohne langes Konsultativerfahren freigestellt, aber nach Zürich war sie trotzdem mitgekommen.

Ich ahnte, dass das weniger mit mir zu tun hatte als damit, dass ich für uns in glücklicheren Zeiten Tickets für die zäntume als „Konzert des Jahres“ angepriesene Veranstaltung organisiert hatte, was damals ein ziemlich aufwändiges Prozedere war: Erst musste man im „Blick“ einen Coupon ausscheiden und darauf vermerken, wie viele Billete man haben möchte. Anschliessend schickte man den Talon dem Veranstalter – Good News oder Free&Virgin sel. – und eines schönen Tages lag im Briefkasten dann eine gelbe Nachnahmesendungsabholungseinladung. Mit dieser ging man zu Herrn Brehm oder Eichenberger an den PTT-Schalter, wo einem gegen Unterschrift und Bargeld ein Couvert ausgehändigt wurde, in dem die Tickets steckten.

Heute läuft das viel einfacher: Heute ordert man das Billet per Handy. Nachher braucht man nichts weiter mehr zu tun, als sich alle paar Monate zu notieren, auf wann das Konzert coronabedingt erneut verschoben wurde. Wer die neuen Termine nicht gewissenhaft nachträgt, läuft Gefahr, etwas zu verpassen, was nach etlichen fruchtlosen Versuchen, wie es im Minigolf heisst, tatsächlich stattfindet; den Gig von Edoardo Bennato in Solothurn zum Beispiel.

Als C. mich anrief, um zu fragen, ob die Einladung ungeachtet unseres neuen Status immer noch gelte, war das, als ob sie mir durch den Trümmerhaufen unserer Beziehung einen dünnen Lichtstrahl ins Dunkel geschickt hätte.

Vielleicht, dachte ich, kommt C. an diesem sicher einzigartig-fantastisch-magischen Abend auf ihren Entscheid zurück. Kaum schon in den ersten zehn Minuten und schon gar nicht mitten in einem allfälligen Schlagzeugsolo, aber bei „Carrie“ könnte es klappen, redete ich mir solange ein, bis aus dem „Könnte“ ein „Müsste“ geworden war.

Statt wie zufällig meine Hand zu berühren, rupfte sie dann aber, „please don’t ask for more“, „this might be our last goodbye“ und „things they’ve change my friend“ mitsingend, einen Blätz nach dem anderen aus meinem ohnehin längst kaputtgetrampelten Seelenteppich, und als sie im Flackern von 10 000 Feuerzeugflämmchen auch noch „maybe we’ll meet again“ summte, obwohl sie offensichtlich keine Sekunde darüber nachzudenken geruhte, sich zu überlegen, ein neuerliches Zusammensein mit mir auch nur in Erwägung zu ziehen, gab mir das dermassen den Rest, dass ich die Halle noch vor den Zugaben verliess, um meinen Frust mit einer Bratwurst hinunterzustopfen und in Bier zu ertränken.

Der Snackstand war – natürlich – geschlossen. In wenigen Minuten würden auch Europe Feierabend machen. In der Halle bejubelten die Leute frenetisch „The final countdown“.

Draussen, auf dem fast menschenleeren Platz vor dem Stadion, wurde mir klar: Meiner ist soeben abgelaufen.

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