Abschied von der Homeoffinsel

Sonntag, 2. Mai 2021, 9.05 Uhr

Im Flughafen von Las Palmas schwebe ich zwischen den Zeiten und Welten. Ich bin nicht mehr in Playa del Inglés und noch nicht in Burgdorf. Das ist, irgendwie, ein angenehmes Gefühl. Und eröffnet gewisse Perspektiven:

Ich kann mich entweder gleich vor den Boardingschalter stellen, einsteigen und gegen Abend nach Burgdorf zurückkehren. Dort siehts wettermässig immer noch aus wie Ende Januar, als ich vor dem Schweizer Winter in den kanarischen Frühling flüchtetete, wie mir heute Morgen kundgetan wurde:

Ebensogut könnte ich aus dem Gebäude laufen, mich von einem Taxi in ein Dörfli im Inselinneren bringen lassen und unter falschem Namen ein Zimmer mieten. Die nächsten Wochen würde ich damit zubringen, meine digitalen Spuren so zu verwischen, dass mich niemand mehr findet. Dafür gibt es Gebrauchsanweisungen und Büros.

Bis Ende Juli, denke ich, wäre ich sozäge ein neuer Mensch, nur: genau dann zügle ich von der Oberstadt ins Flachland. Ich freue mich riesig auf mein Wohnigli fast im Grünen mit einem Bächli daneben und auch sonst fast allem in der Nähe, was ich brauche:

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Vor der Küste Gran Canarias zeichnet eine holländisch-italienische TV-Produktionsfirma seit ein paar Wochen eine Realityserie auf. Sie beruht laut meinem Gewährsmann von der Rezeption auf dem „Bachelor“-Prinzip, nur tun junge Frauen auf einem Schiff statt in einem feudalen Anwesen, als ob sie die kommenden plusminus 60 Jahre mit einer intellektuell nicht bis zum Anschlag getunten, dafür aber auf Hochglanz polierten Kunstfigur verbringen möchten.

Die vom Subjekt ihrer gespielten Begierde entsorgten Silikonkurrentinnen werden bis zur ihrer Heimreise für einen Tag und eine Nacht in dem Hotel zwischengelagert, aus dem ich vor einer Stunde ausgecheckt habe. Eine nach der anderen darf sich dort im Whirlpool planschend und an Prosecco nippend von den Strapazen auf der Yacht erholen.

Die Freiheit hat allerdings Grenzen (oder, für querdenkende: die Frauen sind sämtlicher Grundrechte beraubt). Mit einem Handyverbot verhindern die Macher der Show, dass die ehemaligen Instantpromis in spe die Lieben daheim und die Livetickernden in den Redaktionen brühwarm über den Fortgang des Selektionsverfahrens updaten können.

Eine Anstandsdame (im roten Bikini) achtet wie eine Häftlimacherin auf die Einhaltung dieser Regel, was immer wieder zu, nunja, „Dialogen“ führt, die sich auch William Shakespeare nicht dramatischer hätte ausdenken können.

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Kurz vor Schluss – die Antworten auf die drängendsten Fragen von Leserinnen und Lesern:

  1. Ja, das Auto ist verkauft.
  2. Nur selten; im Wasser wars zu wellig und am Strand zu windig.
  3. 29 Kilo (gemäss der Hotel-Gepäckwaage).
  4. Seit Beginn der Pandemie: 21 500 Fälle. Aktuell krank: 1050. Verstorben: 250. Die 7 Tages-Inzidenz liegt bei 36.
  5. Nein. Die gängigen Fremdsprachen genügen zum Durchkommen.
  6. Hier, mit allem.
  7. Als ich ihn Anfang April noch einmal sah, ging es ihm prächtig.

8. Stand jetzt: im Januar 2022, wieder für drei Monate oder so.
9. Kein Kommentar.
10. In einem Appartment. Die Grenzen zum normalen Zimmer verschwammen jedoch nadisna.
11. Das ist das nächste Projekt. Schön wärs. Mit dem Alk hats ja auch geklappt.
12. Oh, nein.
13. Zweimal täglich, je nachdem dreimal.
14. Wenn, dann nur Poulet.
15. Nicht in diesem Leben und auch nicht im nächsten.

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Im Hospital San Roque in den Hügeln von Maspalomas musste ich mich gestern Nachmittag auf Covid-19 checken lassen. Dort angekommen, dachte ich erst, guet Nacht am Sächsi: Einheimische und Touristen, Nervöse und Coole, Beflipfloppte und Bewanderschuhte, Teenager und Rentner, Hippies und Krawattenträger, Bleiche und Braune sowie sich jeglicher Schubladisierung entziehende Angehörige der LBGQRSTUVWXYZ-Community bildeten eine Kolonne, die keinen Anfang und kein Ende zu haben schien.

Doch statt meine gute Laune innerthalb weniger Minuten zu Tode zu würgen, bescherte mir die Schlange drei überraschend kurzweilige Stunden. Niemand drängelte, niemand meckerte, niemand telefonierte mit dem Anwalt. Wildfremde erzählten sich Witze, berichteten einander, was sie in den Ferien erlebt haben und tauschten kurz vor der Heimreise Restauranttips aus.

Wer den Wartesektor verliess, um bisle zu gehen oder den Nikotinhaushalt zu regeln, durfte sicher sein, dass sein oder ihr Platz freibleiben würde.

Step by step, one by one (Quelle: „Jacob’s Ladder“ von Bruce Hornsby; die Coverversion von Huey Lewis & The News hat aber mehr Pfupf, was sich Mygottstüüri nicht von jeder Coverversion sagen lässt) gings vürschi zum Anmeldungskabäuschen und dann ab in die Praxis zum Nasenbohren.

Spätestens beim Verlassen der Klinik dürfte der eine und die andere gedacht haben: Pandemiebekämpfungsmassnahmen und zivilisiertes Benehmen: geht doch!

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Und damit: zurück in den Aeropuerto. Die Aussichtsplattform ist wegen des allgemeinen Rauchverbots geschlossen. Vor manchen Boutiquen sind die Rollläden unten. Im Lautsprecher des Dutyfree-Shops lief vorhin ein Lied, das ich noch nie gehört hatte und mit nach Hause nehme.

Mit Musik, die man sich im Ausland als Souvenir einpackt herunterlädt, verhält es sich allerdings oft wie mit einem Gewürz, das man in exotischen Gefilden kauft, oder einer Romanze, die man in, sagen wir, Jesolo mit einer deutschen Zeltnachbarin während der ersten elternfreien Ferien anteiggt: Im heimischen Alltag verpufft der Zauber des Fremden schnell.

Nichtsdestotrotz: Herzliche Grüsse an die Höllenwaldstrasse in Siegen!

Jesolo – soviel Zeit muss einfach noch sein – liegt bei Riccione, und wann, wenn nicht jetzt, ist die Gelegenheit, um eine der fägigsten Bands, die unser südliches Nachbarland je hervorgebracht hat, einer breiteren Öffentlichkeit näherzubringen?

„Wenn Sie keine falsche Angst vor sonnenbebrillten Italienern haben, die beim Herumhantieren mit abgewichstesten Hochglanzpop-Versatzstücken keinen hymnischen Refrain liegen lassen können, dann sind Sie hier goldrichtig“, schwärmte Eric Pfeil in seinem immer lesenswerten Pop-Tagebuch im „Rolling Stone“- et voilà:

Auf der Anzeigetafel rattern die Buchstaben und Zahlen. Ich muss zum Gate C13. Um 10.20 Uhr hebt LX 8201 von LPH nach ZRH ab.

Nun denn: Adios, oficisola. Te veo pronto.

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1 Kommentar

  1. Hiermit sei ein übergeordneter Gesamtdank für das treffliche Wort „Silikonkurrentinnen“ entboten, das eben einen Transfer in meinen aktiven Wortschatz erfahren hat.

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