Die neue Virklichkeit (12)

Wer die Veranstaltungen des Jahres 2020 mit wasserfestem Filzstift in die Agenda einträgt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er alle paar Wochen einen neuen Terminplaner kaufen muss.

Zu Dritt sassen wir so gemütlich, wies mit je zwei Metern Abstand halt geht, in der Wohnung einer Freundin und bemühten uns, nicht über das Thema zu sprechen. Das ist aber, wie längst alle wissen, unmöglich. Corona bestimmt unser Leben von A wie „Animationsprogramm für die Kinder“ bis Z wie „Zusammenbruch der Nerven“, wenn A den Kleinen verleidet oder die Grossen zwischendurch eifach nümm möge.

Also sprachen wir trotzdem chly drüber, und als wir uns nach einer Stunde berührungsfrei voneinander verabschiedeten, taten wir das so herzlich, als ob wir uns soeben zum ersten Mal seit vielen Monaten wieder gesehen hätten und uns frühestens in 32 Jahren erneut treffen würden.

Sie werden immer wertvoller, diese Lichtlein im Dunkel der Ungewissheit.

Aber damit: genug der inneren Einkehr, genug des Reflektierens, genug des Sichaufsichselberbesinnens. Es bringt ja doch nichts. Solange Angela Merkel an ihren 5G-Windkrafträdern festhält, müssen wir mit diesem Virus leben, ob wir nicht wollen oder nicht.

Etwas Gutes haben die Bazillen ja: Wegen ihnen ist die alle Jahre wieder mit Hochspannung erwartete und oft zu wüsten Schlägereien unter Sprachwissenschaftern führende Wahl zum „Begriff des Jahres“ schon im März so gut wie entschieden. Gewinnen werden „Stand heute“ oder „Social Distancing“.

„Stand heute“ sagt inzwischen jeder, der etwas plant, was sich später als in zwei Stunden ereignen soll. „Stand heute“ finde die BEA 2020 statt, sagten die Organisatoren wenige Tage, bevor sie den Anlass absagten. Vor Kurzem vermeldete die Finanz&Wirtschaft, „die ausserordentliche Performance des zurückliegenden Jahres“ sei für die Pensionskassen „stand heute“ so gut wie weggewischt. Das Geld dürfte inzwischen folglich versickert sein.

Stand heute darf davon ausgegangen werden, dass das Oberemmentalische Jodlertreffen vom 9. Mai in Trubschachen ebenso steigt wie das tags darauf am selben Ort angesetzte Emmentalische Schwingfest (super: für beide Anlässe genügt ein Link), das Gurtenfestival vom 15. bis 18. Juli oder die „Sternissage“ vom 27. November, zu welcher der Altstadtleist und die Detaillistenvereinigung Pro Burgdorf die Bevölkerung heute schon herzlich einladen…

…aber äbe: Es gibt bestimmt bessere Ideen, als sich diese Termine mit wasserfestem Filzstift in die Agenda einzutragen.

Zum „Social Distancing“ hat sich Manuel Dubach, der reformierte Pfarrer von Burgdorf, Gedanken gemacht:

Falls jemand ebenfalls einen so lässigen Hirten haben möchte, der nebst allem anderen auch erklärt, wies „wieder meh Müntschi“ gibt, kann ich nur sagen: frohes Suchen; das könnte dauern.

Ich möchte nicht wissen, wie der Pfarrer, der um das Jahr 1980 herum mich und zwei Dutzend weitere vollpubertierende Vokuhila-Desperados und Rüeblijeans-Desperadösen zu konfirmieren das Vergnügen hatte, auf ein solches Ereignis reagiert hätte. Vermutlich gar nicht. Ihm ging es vor allem um die Zuschauerzahlen bei seinen Auftritten. Um sie künstlich hochzuhalten, war Dieter K. jedes Mittel recht, auch wenn es jeder Menschenrechtskonvention Hohn spottete.

Wer ihm vor dem feierlichen Übertritt ins kirchliche Erwachsenenalter nicht mindestens 25 Mal live gelauscht habe, werde nicht konfirmiert und damit Pasta, verkündete er unseren Eltern und deren Schutzbefohlenen, was bedeutete, dass wir mit Blick auf eine möglichst üppige Bescherung am Tag X etliche Sonntagmörgen bei ihm in der Kirche absassen statt am lauschigen Hallwilerseeufer über den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan oder das zarte Erblühen der Grünenbewegung zu debattieren mit hochtourig wechselnden Studienpartnerinnen das theoretische Wissen aus dem „Bravo“ in die Praxis umzusetzen (zu versuchen) und dazu den lieblichen Klängen fremdländischer Musikantinnen und Musikanten zu lauschen.

Zum Beleg unserer Anwesenheit mussten wir dem Herrn Pfarrer regelmässig rosarote Zettelchen vorlegen, die uns der gestrenge Kirchensiegrist vor dem Gottesdienst aushändigte. Die Schlaueren unter uns liessen sich beim Hinausgehen gleich noch eines geben („ich habe das andere irgendwie drinnen verloren“) und konnten ihre Zwangspräsenzzeit so elegant halbieren.

Jetzt aber: zurück ins Jahr 2020, zurück zu Corona und damit zurück in die Isolation. Ich merke mehr und mehr, dass Fernsehen keinen Spass macht, wenn man tagsüber weitgehend beschäftigungsfrei zuhause herumhängt. In meiner Swisscom-Box sind ungefähr 50 Spielfilme, Dokumentationen und Serien abgespeichert, die ich einst, bevor ES über uns kam, aufnahm für den Fall, dass es mal ein Wochenende lang regnen sollte.

Jetzt regnet es zwar nicht, aber drinnen sitze ich trotzdem die ganze Zeit. Ich hätte endlos Möglichkeiten, die Konserven zu leeren, doch irgendwie fehlt mir dazu einfach die Lust. Fernzusehen scheint nur dann wirklich Spass zu machen, wenn es eine Art Belohnung darstellt oder eine Abwechslung von der Arbeit bietet. Wenns nichts zu belohnen gibt und vorher null Büez anstand, gibts keinen – gut: fast keinen; etwas ist am Ende ja immer – Grund, sich aufs Sofa zu fläzen, um etwas zu gucken.

Irgendwie verhält es mit den Arte-Dokus heute wie mit den Sexfilmen früher: Im zarten Teenageralter frästen wir Siebesieche auf unseren fast standardmässig mit Tschinggen-Töpfen versehenen Ciaos und üppig verchromten Zweigang-Sachs regelmässig ins Nachbardorf, um Geni Wörner in seinem Kassenhäuschen brandschwarz vorzulügen, wir seien für die Nocturnen in seinem Kino Rössli alt genug.

„Auf der Alm, da gibts koa Sünd“, „Liebesgrüsse aus der Lederhose“, Dutzende von *räusper* Aufklärungsstreifen aus dem Hause Kolle, unzählige Reportagen über liebestolle Schwedinnen plus „Eis am Stiel“ I – XXVII: Wir liessen, ein Sanagol nach dem anderen chätschend, nichts aus. Doch sobald wir 18 Jahre alt waren und diese Filetstücke cinéastischen Schaffens ganz legal hätten geniessen dürfen, interessierten sie uns nicht mehr.

Und jetzt, liebe Erwachsene, wirds endlich Zeit für euer Animationsprogramm:

1 Kommentar

  1. „Fernzusehen scheint nur dann wirklich Spass zu machen, wenn es eine Art Belohnung darstellt oder eine Abwechslung von der Arbeit bietet.“ – Genau.

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